KPMG: In Ihrer Studie thematisieren Sie, dass heute nur Kantone und Krankenversicherer von einer kosteneffizienten Behandlung profitieren. Damit sich der Kostendruck durchsetzen kann, sollte aber auch der Patient daran teilhaben. Erlauben Sie die provokative Frage: Haben Sie vor einem Spitalaufenthalt schon einmal einen Preisvergleich gemacht?
Jérôme Cosandey: Vor dieser Studie habe ich mir diese Frage tatsächlich noch nie gestellt. Und das ist genau der Punkt: Als Patient zahle ich nur meine Franchise bzw. den Selbstbehalt, und diese sind bei einem stationären Aufenthalt schnell erreicht. Ob der Eingriff dann 5000 Franken mehr oder weniger kostet, merke ich als Patient nicht. Ich habe keinen Anreiz, mich bei der Spitalwahl über den Preis zu informieren. Die Aufgabe der Versicherungen sollte es neu sein, die Informationsasymmetrie zwischen Arzt und Patient zu überbrücken. Unser Ziel ist es nicht, eine «Billig-Medizin» zu fördern. Aber wenn ich wüsste, wo ich für meine Bedürfnisse das beste Preis-Leistungs-Verhältnis erhalte, würde das meine Entscheidung massgeblich beeinflussen. Der monetäre Anreiz, den wir vorschlagen, soll zudem den Wettbewerbsdruck zwischen den Spitälern fördern: Das Spital sollte mindestens die gleiche Qualität wie die Konkurrenz anbieten, und es sollte motiviert sein, dies noch kosteneffizienter zu tun. Am Ende kann sich der Patient immer nach individuellen Kriterien sein Spital aussuchen. Niemand sollte sich gezwungen fühlen, eine «zweite Wahl» treffen zu müssen.
Also möchten Sie den Patienten als Kunden die gleiche Freiheit in der Entscheidung bieten, die sie bei anderen Produkten auch bekommen, um damit den Wettbewerb anzuregen?
Genau, dieser Wettbewerbsgedanke war ja auch schon Teil der Neuen Spitalfinanzierung. Aber für einen funktionierenden Wettbewerb müssen drei Kriterien sichergestellt sein: Marktzugang für alle Wettbewerber – dieser ist allerdings über die Spitallisten eingeschränkt. Dann muss der Kunde die freie Wahl zwischen den Leistungserbringern haben – dies ist ausserhalb eines Kantons nur zum Teil möglich. Zuletzt muss Transparenz über das Angebot herrschen – auch mit der Neuen Spitalfinanzierung ist dies nur bedingt gegeben. Als Patient wünsche ich mir ein System, in dem mich mein Krankenversicherer über die Qualitätsunterschiede aufklärt. Nicht nur wegen des möglichen Prämienrabatts, sondern auch weil ich so eine «Second Opinion» über die Leistungen erhalte.
Der Volksmund sagt: «Gesundheit hat keinen Preis.» – Nun fordern Sie einen Wettbewerb und damit eine Ökonomisierung des Gesundheitswesens. Wie lässt sich das mit der Qualität vereinbaren?
Sie haben Recht: Gesundheit ist ein höheres Gut. Da mag es im ersten Augenblick komisch erscheinen, auch hier wirtschaftliches Denken zu verlangen. Dennoch ist es im Interesse aller, für das ausgegebene Geld das Maximum an Qualität zu verlangen. Von Ineffizienzen profitiert keiner – am wenigsten der Patient in einem schlecht organisierten Spital.
Sie sprechen in Ihrer Studie auch an, dass es noch eine externe Instanz geben sollte, die diese Qualität überwacht?
Das ist richtig. Wir möchten, dass der Zugang zum Markt nicht durch kantonal- oder regionalpolitische Überlegungen eingeschränkt wird. Stattdessen sollen schweizweit gültige Qualitätsstandards bestimmen, ob ein Spital am Markt teilnehmen darf. Ähnlich wie wenn jemand ein Restaurant in Zürich betreiben möchte: Erfüllt dieser die notwendigen Sicherheits- und Hygieneanforderungen, darf er ein Restaurant eröffnen. Und das ist auch gut so. Die Aufnahme auf Spitallisten bedingt schon heute die Erfüllung solcher Qualitätskriterien, beispielsweise Mindestfallzahlen. Die kantonalen Unterschiede lassen allerdings aufhorchen. Meist ist es so, dass gerade das Kantonsspital dieses Kriterium erfüllt: Alle öffentlichen Spitäler stehen auf den Spitallisten. Es ist naheliegend, dass die Kantone ihre eigenen Spitäler nicht benachteiligen möchten. Wir möchten die Politik vom Spitalwesen trennen: Die Kantone und die wichtigsten Akteure des Spitalsektors dürfen weiterhin die Methodik der Qualitätsmessung mitbestimmen. Die Grenzwerte für ein spezifisches Qualitätskriterium müssen aber wissenschaftlich begründet sein und sollten nicht durch Regionalpolitik beeinflusst werden.
Sie sprechen in Ihrer Studie auch die gemeinwirtschaftlichen Leistungen (GWL) an, die als verdeckte Subvention für viele öffentliche Spitäler funktionieren, obwohl diese Lehre und Forschung unterstützen sollen. Sind Sie gegen eine solche Unterstützung?
Nein, eine separate Abgeltung für Lehre und Forschung finden wir völlig richtig. Aber die GWL dürfen auch Leistungen aus regionalpolitischen Gründen entgelten. Diese Möglichkeit ist nicht näher definiert. Wenn damit eine Notfallversorgung in Berggebieten sichergestellt wird, habe ich Verständnis dafür. Dort, wo das Jahr über kein regelmässiger Betrieb herrscht wie in Grossstädten, ist es kaum möglich, dass sich ein Spital rein über Fallpauschalen finanziert. Dies soll dann über die GWL ausgeglichen werden. Es ist aber erstaunlich, dass zum Beispiel der Kanton Genf 460 Mio. Fr. GWL pro Jahr zahlt, von denen nur etwa ein Drittel in Forschung und Lehre fliessen. Ich denke nicht, dass in einem Ballungsgebiet wie Genf die Notwendigkeit besteht, Strukturen aufrechtzuerhalten. Die nötige medizinische Versorgung gäbe es sicherlich auch ohne Subventionen. Wenn ein Kanton die nötige Versorgung via GWL sicherstellen möchte, sollte er zudem diese Leistungen ausschreiben. Damit wird ein lokaler Marktpreis für die Spitalleistung ermittelt und Wettbewerbsverzerrungen werden vermieden.
Sehen Sie die Schweiz bereit für Ihren Plan?
Uns ist bewusst, dass es ein dickes Brett ist, das wir hier durchbohren wollen. Gesundheit ist immer ein sehr emotionales Thema. Zum Beispiel bei der letztjährigen Abstimmung im Kanton Neuenburg: Da wurden Stimmen laut, die meinten, eine Stadt wie La Chaux-de-Fonds hätte Anrecht auf ein eigenes Spital. Es ging nicht um Qualität oder Notwendigkeit. Es ging nur um die Emotionen. Und diese beeinflussen halt die Politik.
Dieses Interview ist im Newsletter «Healthcare News» von KPMG Schweiz im März 2018 erschienen. Wiedergegeben mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.