Die Schweiz – ein Land der Gräben. Wer die Berichterstattung zum Abstimmungssonntag verfolgt hat, gewann den Eindruck, die Schweiz sei von Schützengräben durchzogen. Die Rede war von «Geschlechtergraben», «Generationengraben» oder «Einkommensgraben». Abgesehen von der Geschlechterfrage wurde die Debatte jedoch einmal mehr vom aufbrechenden «Röstigraben» dominiert. Auch die Politik übte sich in martialischer Sprachgewalt. Doch: Ist die nationale Kohäsion wirklich bedroht oder letztlich alles nur Rhetorik? Ein Versuch einer nüchternen Einschätzung.
Wird Demokratie verlernt?
Erstens kann man sich eines gewissen Eindrucks nicht erwehren, die Schweiz (oder zumindest Teile davon) verlerne die Demokratie. Es gehört zu deren Wesen, dass in jeder Abstimmung eine Mehrheit über eine Minderheit herrscht. Wenn die Romands von den Deutschschweizern überstimmt werden, ist das kein demokratie- bzw. staatspolitisches Unglück. Schwierig wird es erst, wenn die Mehrheit einer Minderheit ihren Willen aufzwingt, die damit verbundenen Lasten aber selbst nicht mitträgt. Nicht so bei der AHV-Abstimmung: Das Rentenalter 65 gilt unisono in allen Landesteilen. Empörung ist daher nicht angebracht: Demokratie muss man aushalten können.
Zweitens ist die Schweizer Demokratie keine Tyrannei der deutschsprachigen Mehrheit. Wie die Politikwissenschafter Sean Mueller und Anja Heidelberger in einem aktuellen Aufsatz akribisch nachrechnen, kam es seit der Bundesstaatsgründung nur fünfmal vor, dass eine einheitlich stimmende Romandie einer einheitlichen Deutschschweiz gegenüberstand. Nur in knapp 4 Prozent aller Volksabstimmungen stand – wie bei der AHV-Vorlage – eine vereinte Romandie auf der Verliererseite. Hingegen triumphierte eine einheitlich abstimmende Romandie in 55 Prozent aller Abstimmungen. Zudem tritt der Röstigraben nicht etwa häufiger zutage. Im Gegenteil: Die Unterschiede zwischen den Sprachregionen waren früher viel ausgeprägter. Insbesondere in der Zeit nach 1848, als sich die Auseinandersetzungen oftmals an der richtigen Balance zwischen Föderalismus und Zentralismus entzündeten.
Die Romands ticken anders
Sind die Unterschiede zwischen der deutsch- und französischsprachigen Schweiz also vernachlässigbar? Keineswegs. Nicht zuletzt bei sozial- und europapolitischen Fragen manifestieren sich regelmässig Unterschiede in Volksabstimmungen (wobei man diesbezüglich auch über den Stadt-Land-Gegensatz sprechen müsste). Ebenso wird die Rolle des Staates dies- und jenseits der Sprachgrenze oft anders aufgefasst. Doch die Differenzen gehen über die politischen Ansichten und stereotype Vorstellungen hinaus. So zeigt eine umfassende Forschungsliteratur, dass sich die individuellen Präfenzen und Verhaltensweisen auf beiden Seiten der Sprachgrenze tatsächlich unterscheiden. Die Forscher machen sich dabei zu Nutze, dass die Sprachgrenze oft innerhalb einzelner Kantone verläuft und sich somit der kulturelle Einfluss von anderen Faktoren wie dem ökonomischen oder institutionellen Umfeld trennen lässt. Vom Sparverhalten über die Arbeitsmarktbeteiligung bis hin zu risikoreichem (Gesundheits-) Verhalten findet sich breite wissenschaftliche Evidenz eines Röstigrabens. Trotz 170 Jahren gemeinsamen Staates und jahrhundertelangem Zusammen- bzw. Nebeneinanderlebens.
Föderalismus zum Schutz der kulturellen und politischen Vielfalt
Die historisch gewachsenen und weiterhin bestehenden kulturellen Unterschiede zeigen, wie bedeutend der Föderalismus für die Schweiz heute noch ist oder sein sollte. Auch in der Funktion als Minderheitenschutz. Ein Gedanke, der in der medialen und politischen Erregung zur AHV-Reform vergessen ging. Es lohnt sich aber allemal, dieses bewährte Erfolgsrezept angesichts des konstatierten Röstigrabens wieder einmal in Erinnerung zu rufen.
Der Föderalismus erfüllt hauptsächlich zwei Funktionen: eine statische und eine dynamische. Die dynamische Eigenschaft zielt auf den «Laborföderalismus»: Unter Kantonen und Gemeinden entsteht ein Wettbewerb der besten Ideen, bewährte Lösungen können von anderen kopiert werden. Kritiker sehen darin jedoch oft nur einen lästigen Flickenteppich. Doch: Die unterschiedlichen Vorstellungen und Präferenzen der Bürger zeigen, warum der Föderalismus selbst dann von Vorteil ist, wenn man die dynamischen Effekte in Frage stellt. Anstatt über die Majorisierung durch den Deutschschweizer – und in anderen Fällen etwa städtischen oder ländlichen – Souverän zu klagen, sollte man sich wieder stärker für den Föderalismus einsetzen. Damit sich alle Landesteile eigenständig und bürgernah entwickeln können – und den kulturellen Unterschieden auch langfristig Rechnung getragen wird.
Klar, die welschen Kantone werden das gesetzliche Rentenalter so schnell nicht selbst festlegen können. Es gibt allerdings genügend Bereiche – erst recht in der Sozialpolitik – die in die kantonale Kompetenz fallen. Ein aktuelles Beispiel sind die Prämienverbilligungen, die angesichts der steigenden Krankenkassenprämien und der generellen Teuerung zu politischem Aktivismus verleiten. Niemand hindert die Kantone daran, für eine entsprechende Entlastung der Haushalte tiefer in die Schatulle zu greifen. Indes fand im Nationalrat jüngst eine Motion eine Mehrheit, den Bundesbeitrag an die Prämienverbilligungen (vorerst befristet) um eine zusätzliche Milliarde Franken zu erhöhen. Es ist jedoch gerade solche Politik, die der schleichenden Zentralisierung Vorschub leistet. Immerhin war dem Ständerat das Geschäft noch nicht ganz genehm; er schickte es zur genaueren Überprüfung in die zuständige Kommission.
In Anlehnung an den Abstimmungssonntag mahnte Mitte-Präsident Gerhard Pfister in einem Interview mit der NZZ zu Recht, Bundesbern habe Politik für die ganze Schweiz zu machen. In der föderalistischen Schweiz wird die Politik allerdings nicht nur in Bundesbern, sondern auch in den Kantonen gemacht. Nur geht das leider allzu oft vergessen.