Die Neuigkeit sorgte kaum für Aufsehen. Dabei wird sie massive Auswirkungen auf über 2,3 Millionen Rentnerinnen und Rentner sowie auf unser gesamtes Sozialsystem haben: Die AHV-Renten sollen ab 2019 monatlich um 10 Franken (Minimalrente) beziehungsweise um 20 Franken (Maximalrente) erhöht werden. Was im Einzelfall eine geringfügige Erhöhung scheint, lastet in der Summe schwer auf dem gesamten System. Diese Anpassung wird Zusatzausgaben in der Höhe von 380 Millionen Franken pro Jahr für die AHV nach sich ziehen. Da die Renten der Invalidenversicherung (IV) an die AHV-Minimalrente gekoppelt sind, werden auch die Gesamtausgaben der IV um 50 Millionen Franken pro Jahr steigen.

19 Erhöhungen der AHV-Rente

Gemäss Art. 33 des Bundesgesetzes über die Alters- und Hinterlassenenversicherung passt der Bundesrat die ordentlichen Renten in der Regel alle zwei Jahre mit Hilfe des sogenannten Mischindexes an, der die durchschnittliche Lohn- und Preisentwicklung (Inflation) abbildet. Dieser Gesetzesartikel wurde 1979 eingeführt, um einerseits die laufenden Renten vor der Teuerung zu schützen und andererseits die Ersatzquote, gemessen am letzten Lohn der Neurentner, konstant zu halten. Seither wurde die Höhe der monatlichen Minimalrente 19 Mal angepasst und stieg von 525 Franken im Jahr 1979 auf 1175 Franken im Jahr 2015.

Sand in der Getriebemechanik der AHV-Rentenanpassung. (vug)

Die Ausnahme, welche die Regel bestätigt

Hiobsbotschaft im Jahr 2016: Der Bundesrat teilt mit, die AHV-Mindestrente werde nicht angepasst. Zum ersten Mal seit 1979 wurden die AHV-Renten nicht nach oben korrigiert. Diese Entscheidung, die von vielen Rentnern als Affront empfunden wurde, entpuppte sich letztlich als Geschenk. Die Renten hätten nämlich gesenkt werden müssen! Nach der Aufhebung des Euro-Mindestkurses durch die Nationalbank erhöhten sich die Löhne zwischen 2015 und 2016 nur leicht und die Inflation der Schweiz war seit einigen Jahren Null oder gar negativ. In der Folge sank der Mischindex und die Renten hätten eigentlich um sechs Franken pro Monat gekürzt werden müssen. Doch weder die AHV-Kommission noch der Bundesrat wagten es, das Tabu der Rentenkürzung zu brechen. Man möchte offensichtlich eine gesetzlich verankerte Regel zur Anpassung der Renten, die jedoch nur in «Schönwetterzeiten», wenn eine Erhöhung ansteht, gelten soll.

Schon wieder vergessen

Die Nichtanpassung der Renten, wenn der Mischindex sinkt, ist angesichts der immer mächtigeren Wählerschaft im Rentenalter nur zu verständlich. Was aber überrascht, ist die Tatsache, dass die grosszügige Haltung von 2016 heute, trotz der wieder anziehenden Inflation, völlig ignoriert wird. Die oben erwähnte Erhöhung um 10 Franken pro Monat ab 2019 basiert auf der 2016 festgelegten «zu hohen» Rente und passt diese an die inzwischen erfolgte Preis- und Lohnentwicklung an.

Würde man die theoretisch notwendige Senkung der Renten um 6 Franken pro Monat im Jahr 2016 berücksichtigen und die Entwicklung des Mischindexes seit 2014 (Jahr der letzten Anpassung) miteinbeziehen, dürfte die monatliche Mindestrente ab 2019 nur um einige wenige Franken steigen. Die beiden letzten Jahre ohne Rentensenkung hätten immer noch zusätzliche Ausgaben von 520 Millionen Franken für die AHV generiert. Aber man würde sich der theoretischen Rente gemäss Mischindex wenigstens annähern, anstatt sich noch weiter von ihr zu entfernen. Wenn man die Mischindex-Regel seit 1979 ganz streng angewendet hätte, betrüge die AHV-Minimalrente 2017 nur 1115 Franken und nicht 1175 Franken pro Monat.

Einen Zyklus zur Stabilisierung nutzen

Die Idee, die Renten zwar vor einer Korrektur nach unten zu schützen, aber im Gegenzug bei einer Trendwende die «nicht realisierten Senkungen» erst einmal zu kompensieren, ist gar nicht so weit hergeholt. Dieser Mechanismus ist seit 2004 in Deutschland für die 1. Säule in Kraft. Dort folgen die Renten dem Nachhaltigkeitsfaktor, das heisst dem Verhältnis zwischen der Summe der Löhne und der Summe der Rente. Sinkt dieser Faktor, werden die Renten eingefroren. Wenn er sich später wieder verbessert, muss das Verhältnis erst seinen ursprünglichen Wert erreichen, bevor der Faktor wirksam wird: so entsteht eine Art Schuldenbremse über einen Konjunkturzyklus hinweg.

Schade, dass die Schweiz, die sich normalerweise ihrer Budget-Disziplin rühmt, bei ihren Sozialversicherungen weniger konsequent ist. Eine Regel, welche die politische Realität berücksichtigt – die AHV-Renten können nicht gesenkt werden –, wie auch in der Lage ist, Konjunkturschwankungen langfristig auszugleichen, könnte sich als viel nachhaltiger erweisen als die Injektion von 2 Milliarden Franken pro Jahr, wie dies in der im September vom Parlament beschlossenen Steuervorlage 17 vorgesehen ist.

Dieser Beitrag ist in der «Schweizer Personalvorsorge» vom 16.11.2018 erschienen.