Akzente: In einem 2005 von Avenir Suisse publizierten Leitfaden für Tagesschulen steht, dass diese die «normalen» Lernorte für die Kinder des 21. Jahrhunderts sein sollten. Weshalb ist dies in der Schweiz noch nicht der Fall?

Matthias Ammann: Das habe ich mich auch gefragt, als ich gesehen habe, dass Avenir Suisse bereits vor 15 Jahren zu dem Thema Empfehlungen gemacht hat. Gesellschaftspolitische Veränderungen brauchen gerade in unserem Land ihre Zeit. Zum einen mag hinter dieser späten Entwicklung eine Kulturfrage stecken. Man kennt Tagesschulen nicht und macht deshalb auch keine. Schulen sind relativ robuste Institutionen, oft ist es schwer, Veränderungen einzubringen. Ein anderer Grund dürfte die geografische Struktur der Schweiz mit ihrer Kleinteiligkeit sein. Schon alleine aufgrund der Distanzen war es immer möglich, dass die Kinder über Mittag nachhause kommen. In den USA beispielsweise wäre das undenkbar, weil der Schulweg viel zu weit ist.

Tagesschulen waren in der Schweiz also nicht zwingend notwendig.

Genau. Man hat lange nichts anderes als das traditionelle Modell gekannt und sich mit den bestehenden Strukturen arrangiert. Doch jetzt hat ein gesellschaftlicher Wandel eingesetzt. Das Tagesschulprojekt der Stadt Zürich kommt nicht von ungefähr. Offenbar ist das Bedürfnis da, dass die Schulen anders organisiert werden.

Welche Auswirkungen hat der Ausbau von Tagesschulen auf die Volkswirtschaft?

Diese Fragestellung beschäftigt uns besonders bei Avenir Suisse. In der Schweiz haben wir heute einen Fachkräftemangel, und welche Auswirkungen die Corona-Krise hat, wird sich erst noch zeigen. Zudem treten seit 2018 aus demografischen Gründen mehr Arbeitskräfte aus dem Arbeitsmarkt aus als ein. Wir sind daher auf Migration angewiesen und auf Frauen, die ihr berufliches Potenzial aufgrund der Strukturen unseres Bildungssystems heute noch nicht ausschöpfen. Ich spreche von Frauen, weil meist sie als Zweitverdiener beruflich zurückstecken. Die Grundannahme ist, dass Tagesschulen ihre Integration in den Arbeitsmarkt erleichtern. Gerade bei unterschiedlichen Schulzeiten der Kinder erfordert die Betreuung einen grossen Organisationsaufwand. Wird dieser minimiert, setzt man für Frauen Anreize, in den Arbeitsalltag zurückzufinden.

«Mehr Betreuungsangebote führen zu höheren Arbeitspensen der Mütter.» (ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv)

Aber tun sie dies dann auch? Führen Tagesschulen tatsächlich zu einer stärkeren Integration von Frauen in der Berufswelt?

Interessant ist, dass die Forschung bei dieser Frage auf Kindertagesstätten fokussiert. In diesem Alter der Kinder ist es für Zweitverdiener extrem schwierig, ohne externe Betreuung zu arbeiten. Es geht also um die Frage arbeiten oder nicht arbeiten. Wenn die Kinder in der Schule sind, können Eltern auch ohne zusätzliche Betreuung ihrem Beruf nachgehen, wenn auch oft in reduziertem Pensum und mit grossem organisatorischem Aufwand. Das Betreuungsproblem ist ab dem Schuleintritt also weniger virulent, dafür besteht es viel länger. Die Wissenschaft, die sich nun dieser Forschungslücke angenommen hat, stellt einen positiven Effekt zwischen Betreuungsangeboten und der Arbeitstätigkeit der Zweitverdiener fest. Mehr Betreuungsangebote führen zu höheren Arbeitspensen der Mütter. Würde man heute Tagesschulen flächendeckend einführen, wäre der zusätzliche Effekt jedoch wohl geringer als erhofft.

Wie das?

Die Erwerbsbeteiligung der Frauen ist in der Schweiz schon sehr hoch. Viele Eltern haben sich bereits organisiert, wobei die Betreuung oft privat koordiniert wird, man arrangiert sich mit anderen Familien oder den Grosseltern. Inwiefern der Ausbau von Tagesschulen wirklich zu noch höheren Arbeitspensen führt, ist also ungewiss. Doch man erleichtert damit das Leben der Familien. Eine allfällige stärkere Einbindung von Müttern ins Arbeitsleben und die organisatorische Vereinfachung sind jedoch vermutlich nicht die einzigen Effekte eines Ausbaus von Tagesstrukturen.

Was wären weitere Effekte?

Die Berufswahl wie auch die Aufteilung der Arbeitstätigkeit innerhalb einer Familie sind mit der Organisation der Kinderbetreuung verknüpft. Ich wähle natürlich die Art von Tätigkeit, die mir die nötige Flexibilität gewährt, zuhause alles unter einen Hut zu bringen. Bei den Frauen sieht man in der Berufswahl eine Tendenz zu Jobs, die ihnen diese Flexibilität bieten. Wo sich solche Fragen der Koordination weniger stellen, weil die Kinderbetreuung einfach organisiert ist, bin ich freier in der Berufswahl.

Gibt es einen Zusammenhang zwischen den Betreuungsangeboten und dem wirtschaftlichen Erfolg eines Landes?

Ich kenne keine Forschung, die dies auf die Betreuungsfrage reduziert. Weil die Wirtschaft von zahlreichen Faktoren beeinflusst wird, ist es schon sehr schwierig, überhaupt Rückschlüsse vom Bildungssystem auf den wirtschaftlichen Erfolg eines Landes zu ziehen. Forscher konnten zeigen, dass auf eine Verbesserung in den Pisa-Resultaten eine Verbesserung des wirtschaftlichen Outputs folgt. Solche Resultate sind mit Vorsicht zu interpretieren. Grundsätzlich sind wir in der ressourcenarmen Schweiz auf gut ausgebildete Fachkräfte und auf ein effektives Bildungssystem angewiesen.

Was bedeutet die Umstellung zur Tagesschule, an der Unterricht und Betreuung zusammen konzipiert werden, für die Qualität der Bildung?

Dabei geht es vor allem um die Frage, ob solche Strukturen die Chancengleichheit verbessern können. Wenn Kinder zuhause bereits optimal betreut und angeregt werden, wird eine Tagesschule kaum bessere Effekte liefern. Man erhofft sich jedoch, dass Tagesschulen gewisse Defizite ausgleichen können. Eine vom Schweizerischen Nationalfonds finanzierte Studie zeigt sehr unterschiedliche Ergebnisse für die verschiedenen Ziele von Tagesschulen. Die sozialen Kompetenzen etwa werden an einer Tagesschule durchaus gefördert. Bei den Mathematik-Kompetenzen dagegen zeigte sich beispielsweise keine allgemeine Verbesserung. Die empirische Forschung steht vor der Herausforderung: Tagesschule ist nicht gleich Tagesschule, es gibt Qualitätsunterschiede und damit unterschiedliche Effekte von Schule zu Schule.

Wäre eine flächendeckende Einführung von Tagesschulen wie in der Stadt Zürich aus Ihrer Perspektive sinnvoll?

Aus meiner Sicht sind Tagesschulen ein hilfreiches Instrument, um Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen. Die Lebensweisen haben sich verändert und mit ihnen auch die Anforderungen an die Bildungsinstitutionen. Aber die Kompetenz liegt bei den Gemeinden, und es ist durchaus sinnvoll, dass man die Angebote dort schafft, wo auch ein Bedürfnis vorhanden ist.

Die Umstellung zur Tagesschule ist für eine Gemeinde mit Kosten verbunden. Zahlen sich diese Investitionen aus?

Auch diese Rechnung ist sehr kompliziert. Es ist wahrscheinlich schwierig, durch Tagesschulen das Steuersubstrat zu optimieren. Die Kosten für die Tagesschulen können vermutlich, jedenfalls auf die kurze Frist, nur teilweise durch die steuerlichen Mehreinnahmen aufgrund der höheren Arbeitspensen der Eltern kompensiert werden. Aber ich glaube, dass sich eine Gemeinde positiv positionieren könnte, indem sie sagt: Wir bieten Tagesschulen, weil sie ein guter Dienst für unsere Bürgerinnen und Bürger sind.

Wir führen dieses Interview nach Ausrufung des Notstands durch den Bundesrat. Welche Auswirkungen könnte die Coronakrise auf die Debatte rund um Tagesschulen haben?

Die Betreuungsfrage hat sich noch einmal stärker akzentuiert. Der Beschluss, die Schulen zu schliessen, fiel nicht leicht, weil die Betreuung der Kinder die Eltern vor grosse Probleme stellt. Wenn junge Familien plötzlich auf ihre Kinder aufpassen müssen, wird auch deutlich, dass Home-Office seine Grenzen hat. Es kann eine externe Betreuung nicht kompensieren. Wahrscheinlich stärkt sich das Bewusstsein für die Thematik allgemein. Und zwar nicht bei den Familien, sondern bei allen, die vorher nicht davon betroffen waren.

Dieses Interview ist in der Ausgabe 3/20 der Zeitschrift «Akzente – Das Magazin der Pädagogischen Hochschule Zürich» erschienen. Das Gespräch führte Melanie Keim.