Peter Grünenfelder über Innovation (Foto Mario Heller)

«Ich wünsche mir, dass der Wettbewerbsgedanke wieder mehr ausgelebt wird»: Peter Grünenfelder im Gespräch mit der NZZ. (Foto Mario Heller)

NZZ: Wie fühlt man sich im urbanen Zürich-West als ausgedienter Aargauer Spitzenbeamter?

Peter Grünenfelder: (lacht) Kleine Korrektur: Der Kanton Aargau hat den Beamtenstatus schon vor Jahren abgeschafft. Ich verstand mich stets als staatlich besoldeter Manager. Wohnhaft war ich übrigens immer schon in Zürich. Der berufliche Wechsel ist spannend. Ich komme aber aus einer Regierungsbehörde, in der ich frei denken konnte – wie jetzt bei Avenir Suisse.

War Ihr Wechsel also keine Flucht aus dem biederen Rüeblikanton?

Das ist nun bösartig. Der Kanton Aargau ist gut aufgestellt, er vollzieht eine Transformation zum Hightech-Kanton, er ist wirtschaftlich stark und hat eine Regierung, die nach vorne treibt.

Was ist das Erfolgsgeheimnis – was macht der Aargau besser als Zürich?

Es steht mir nicht zu, die Aargauer gegen die Zürcher auszuspielen. Was der Aargau aber anders macht: Die Regierung schaut weit voraus, zehn Jahre, und definiert ein Zukunftsbild. Derzeit steht im Vordergrund, zum Top-Technologie- und -Hightech-Standort zu werden. Das Gute daran: Zehn Jahre vorauszublicken und nach definierten Zielen zu handeln, zwingt zu Reformen. Das ist kein Aargauer System, es stammt aus dem angelsächsischen, amerikanischen und asiatischen Raum.

Der Aargau ist aber nicht mit London oder New York zu vergleichen.

Das Vorgehen ist überall gleich: Die Regierung definiert, wo der Kanton hin soll, dann bindet sie Partner aus Wirtschaft, Forschung und Gesellschaft ein, richtet die Staatsaktivitäten danach aus und misst sich permanent mit der Konkurrenz. Diesen privatwirtschaftlichen Ansatz in einem Kanton durchzuführen, ist ein Kraftakt, der sich lohnt. Die grossen Herausforderungen der Schweiz und der Kantone können nämlich nicht in der Alltagspolitik gelöst werden, es braucht mittelfristige Ansätze.

Wie kam der Kanton Aargau auf die Zielsetzung, ein boomender Technologie-Kanton zu werden?

Wir machten eine Analyse, wie sich die Wertschöpfung gestaltet und entwickelt. Eine Erkenntnis daraus war, dass vorhandenes Wissen besser in die Wirtschaft transferiert werden muss, Wissen, das etwa an den Fachhochschulen und am Paul-Scherrer-Institut generiert wird. Zudem haben wir die Raumplanung weiterentwickelt, um innovative Firmen anzusiedeln, die Bewilligungsverfahren speditiv gestaltet und schon früh einen Innovationspark geschaffen. Zudem haben wir einen Fokus auf die Lebensqualität gelegt: Von überall her soll man in zehn Minuten im Grünen sein. Bezüglich Innovationspark ist der Aargau nun gut unterwegs, während andere Kantone noch von der Umsetzung reden.

Haben Sie sich zuweilen ins Fäustchen gelacht, weil Zürich nicht so agil ist?

So würde ich es nicht formulieren. Aber ich schätze, dass Kantone noch föderalen Handlungsspielraum haben. Und ich wünsche mir, dass der Wettbewerbsgedanke wieder mehr ausgelebt wird. Zürich ist auf hohem Niveau stabil. Aber man könnte noch ehrgeiziger werden. Zürich ist unbestritten Wirtschaftsstandort Nummer eins und immens wichtig für das Land. Aber politisch fehlt der Hunger nach mehr. Zürich sollte sich mit Singapur, New York oder London vergleichen, mit den grossen Wirtschaftszentren der Welt. Wenn man so lange so erfolgreich war, ist es aber wohl ein natürlicher Prozess, dass man sich daran erinnern muss, was es braucht, um den Wohlstand halten zu können.

Reden wir von der Zürcher Regierung. Haben Sie den Eindruck, dass sie mehr verwaltet als gestaltet?

Sie hat einen schwierigen Job. Im aktuellen Sparpaket hat sie das politisch Machbare vorgelegt. Das ökonomische Ei des Kolumbus ist es nicht. Zwar hat die Regierung in einer schwierigen Situation einiges herausgeholt. Da Zürich aber im internationalen und föderalistischen Wettbewerb immer noch eine Vorreiterrolle einnimmt, hätte das Sparpaket ambitionierter und strategischer ausfallen können.

Finanzdirektor Ernst Stocker ist schlau und legt das Umsetzbare vor. Das ist doch politisch geschickter, als eine weitreichende Strategie zu entwickeln und dann vielleicht kolossal zu scheitern?

Wir erleben derzeit enorm starke Umwälzungen, bedingt durch die technologische Revolution. In fünf Jahren ist die Mehrheit der Arbeitskräfte digital sozialisiert. Da ist es notwendig, dass sich der Staat nicht auf das temporär Notwendige und Machbare konzentriert, sondern auch langfristig und strategisch denkt – und das Risiko in Kauf nimmt, dass er in einem ersten Anlauf scheitert. Langsam vorzugehen, ist angesichts der Dynamisierung in Wirtschaft und Gesellschaft eine verpasste Chance. Die Sparpakete, die derzeit auf Bundesebene und in etlichen Kantonen aufgegleist werden, sind so gesehen zu konservativ. Die Regierungen sollten sich besser fragen, welche staatlichen Aufgaben es noch braucht, um in Zukunft Wertschöpfung zu generieren. Sie sollten konstruktiv provozieren – die Erdung erfolgt dann im politischen Prozess ohnehin.

Wer stösst solche Strategie-Prozesse an? Der Staatsschreiber, der Präsident?

Es braucht zwingend eine Regierung, die zusammenhält und eine gesunde Streitkultur besitzt. In der Aargauer Regierung hatten wir auch schon bis nach Mitternacht über Sparpakete diskutiert. Es braucht Treiber in Regierung und Verwaltung. Ein Sparpaket durchzusetzen, ist ein ausgesprochen harter, emotionaler, zeitintensiver Prozess. Wir strebten nie Opfersymmetrie an. Wir sparten vor allem in jenen Bereichen, die kaum mehr Mehrwert für die Bevölkerung bringen.

Wenn Sie die Zürcher Regierung strategisch beraten würden: Wo würden Sie die Akzente setzen?

Nicht nur Zürich, jeder Kanton muss sich überlegen, welches seine Prosperitätstreiber sind. Ganz grundsätzlich gilt es, die Staatsleistung permanent zu hinterfragen und die Politik auf jene Bereiche zu fokussieren, die Wertschöpfung bringen und Potenzial haben.

Und welche sind dies in Zürich?

Zürich müsste erstens stark auf die Internationalisierung setzen. Nicht nur Basel und Genf profitieren, auch Zürich lebt von seiner internationalen Ausrichtung. In der Europadiskussion, bei der Aussenhandelsthematik und in der Aussenpolitik müsste Zürich denn auch viel stärker wahrnehmbar sein. Zweitens gilt es, Sorge zum Finanzplatz zu tragen und dessen Bedürfnisse aufzunehmen, zum Beispiel mit Blick auf den Arbeitsmarkt. International tätige Unternehmer sagen mir, dass es hier doch sehr bürokratisch abläuft. Drittens geht es um die Geschäftsfelder der Zukunft. Die digitale Revolution kommt, und Zürich hat beste Chancen, hier eine Führungsrolle wahrzunehmen. Zürich ist neben dem Arc Lémanique das Wissenszentrum der Schweiz. Hier gibt es viele Möglichkeiten, bei der Spitzenmedizin zum Beispiel, aber auch bezüglich Startups. Zürich sollte sagen: Wir sind europaweit der führende Startup-Standort, wir richten unsere Politik konsequent darauf aus, von der Raumentwicklung über die Bewilligungsverfahren bis zur Steuerpolitik. Gerade mit Letztgenannter werden aber heute Jungunternehmer nicht gefördert, sondern vielmehr behindert.

Die Regierung würde Ihnen entgegenhalten, dass sie all das schon tut und zum Beispiel den Innovationspark in Dübendorf fördert – den Avenir Suisse notabene als veraltetes Konzept bezeichnet hat.

Ja, es läuft einiges. Aber wenn Sie einen Staatshaushalt von 14 Milliarden Franken haben und berechnen, wie viel davon in Exzellenz oder in Spitzen-Professuren investiert wird; oder wenn Sie das Bewilligungsprozedere und das erwähnte Steuersystem für Startups betrachten – dann sehen Sie, dass es noch Spielraum für die Stärkung des Wirtschaftsstandorts gibt, der auch wettbewerbsfähigere Steuertarife zulassen würde.

Zentral für die Entwicklung des Standorts ist der Flughafen. Da scheint sich die Zürcher Regierung aber nicht besonders exponieren zu wollen. Mutlos?

Zürich ist der wichtigste nationale Flughafen, und dieser ist in ein schwieriges demokratisches Geflecht eingebunden. Die Regierung sollte tatsächlich stärker in Erinnerung rufen, wie unglaublich wohlstandsfördernd der Flughafen Zürich mit seiner Hub-Funktion für die ganze Schweiz ist. Es ist ebenso klar anzusprechen, was in den nächsten Jahren getan werden muss: Für die kommenden Jahrzehnte sind verbindliche Rahmenbedingungen festzusetzen. Es braucht Änderungen und Massnahmen zum Kapazitätsausbau, diese müssen jetzt angegangen werden.

Auf eidgenössischer Ebene tut sich Zürich schwer. Wie kann Zürich in Bern seine Interessen besser wahren?

Überzeugen, gute Arbeit leisten, mehrheitsfähige Allianzen bilden. Es ist nicht konsequent, sich über den eidgenössischen Finanzausgleich und gleichzeitig über umliegende Kantone zu beklagen, die bessere steuerliche Konditionen für Firmen und Privatpersonen bieten. Zudem wirkt es etwas seltsam: Zürich beklagt sich, in Bern gemolken zu werden, will nun aber im Rahmen des Sparpakets die eigenen finanzstarken Gemeinden im kantonalen Finanzausgleich noch mehr abschöpfen. Das sind doch unklare Signale. Aber wenn Zürich zum Reformkanton wird, dann schauen die anderen Kantone auf Zürich.

Gibt es den Anti-Zürich-Reflex überhaupt?

Ja, den gibt es. Aber daran ist man nicht ganz unschuldig. Kleinere Kantone oder Nachbarn von oben herab zu betrachten oder zu belächeln, ist keine gute Voraussetzung, um die anderen von der eigenen Position zu überzeugen. Gerade wenn man wirtschaftlich erfolgreich ist, sollte man das die anderen nicht unbedingt spüren lassen. Warum sind die Bündner so beliebt? Weil sie sympathisch sind.

Ist Zürich zu gross für die Schweiz? Braucht es eine Gebietsreform?

Ein Problem besteht allenfalls auf kommunaler Ebene, wo es mitunter schwierig ist, Behörden zu besetzen. Hier besteht Handlungsbedarf, Stichwort Gemeindefusionen. Zwischen den Kantonen müsste der Wettbewerb gestärkt werden. Die Diskussion um die Zusammenlegung von Kantonen ist nicht zielführend. Was es aber braucht, um den Wettbewerb zu stärken, ist ein NFA II, also eine Neuauflage des Finanzausgleichs. Dabei sind auch die Verbundaufgaben kritisch zu hinterfragen. Es geht nicht an, dass Zürich Verkehrsvorhaben vorfinanzieren muss, die eigentlich der Bund bezahlen müsste. Anstelle von Verbundaufgaben sind die Verantwortlichkeiten zu bestimmen. Ausserdem sollten mehr Anreize für ressourcenschwache Kantone geschaffen werden, damit es sich für sie lohnt, zu den starken Kantonen aufzuschliessen. Aber eine Gebietsreform zielt am Problem vorbei. Gerade was Innovationen betrifft, kommen ja auch viele Neuerungen von den kleinen Kantonen.

Dieses Interview ist am 25. April 2016 in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen. 
Mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

Reaktionen auf das Interview in der Presse:

Tages-Anzeiger: Avenir-Suisse-Chef: Zürich fehlt der Ehrgeiz
Neue Zürcher Zeitung: Wenig begeistert vom Rat von Avenir Suisse
Aargauer Zeitung: Der ehemalige Aargauer Staatsschreiber hat die Zürcher Seele verletzt
Aargauer Zeitung: Wer hat im Wirtschaftsvergleich wirklich die Nase vorn? Ein interaktives Duell