Uwe Stolzmann: Sie schauen mit dem kühlen Blick des Forschers auf die Vorsorge in der Schweiz. Wie ist die Lage?

Jérôme Cosandey: Das Drei-Säulen-System sehen wir als eine Stärke. Wir finden richtig, dass die AHV für alle da ist. Die zweite Säule mit ihren 1500 Pensionskassen hingegen kann die Bedürfnisse und Vorlieben der Versicherten in Betrieben besser berücksichtigen. Die dritte Säule sowieso, die ist ja freiwillig und individuell.

Und wie ist aus Ihrer Sicht der Zustand der zweiten Säule?

Kurzfristig gut. Mit der Pandemie haben wir gerade eine grosse Krise durchgemacht, gleich danach rutschten wir in die nächste: Krieg in der Ukraine, Wertverfall am Aktienmarkt, Inflation. Und trotzdem haben die meisten Pensionskassen noch einen Puffer. Die Leistungsversprechen sind nach wie vor abgesichert. Auf kurze Sicht ist das eine solide Situation.

Die Menschen haben nicht mehr die lineare Biografie von 1985

Solide sei die Situation, sagen Sie. Warum ist dann die anstehende BVG-Reform so nötig?

Wir müssen handeln. Damit die Renten, die wir jetzt auszahlen, auch wirklich vorfinanziert sind. 1985 haben wir die obligatorische zweite Säule eingeführt. Seither hat sich unsere Gesellschaft stark verändert. Die Menschen haben nicht mehr diese lineare Biografie, eine Stelle von der Lehre bis zur Pensionierung. Viele durchlaufen verschiedene Stationen. Sie wechseln den Arbeitgeber oder haben mehrere Jobs, arbeiten Teilzeit, gehen ins Ausland, gründen eine Familie… Diese gesellschaftlichen Veränderungen werden in der Debatte über die BVG-Reform oft vergessen. Wir müssen die berufliche Vorsorge, diese Errungenschaft aus den achtziger Jahren, endlich ins 21. Jahrhundert bringen. Aber, verrückt: Die Politik hat zwei Züge Verspätung! Die Realität an der Front, bei den Pensionskassen sieht ganz anders aus. Umwandlungssatz, Koordinationsabzug, Generationengerechtigkeit – viele Kassen haben bereits Vorkehrungen getroffen. Doch die Politik streitet immer noch auf eine Weise, als wenn es diese Realität nicht gäbe.

Jérôme Cosandey: «Das Drei-Säulen-System sehen wir als eine Stärke.» (blpk)

Den Reformstau in der zweiten Säule gibt es seit Jahrzehnten. Wie kann man ihn auflösen?

Es braucht Öl für die Zahnräder der Politik. Damit sie sich wieder drehen. Dafür gibt es verschiedene Ölsorten und Ansätze. Wenn man nur über den Umwandlungssatz redet, steht jeder mit dem Taschenrechner da: Was verliere ich, was gewinne ich? – Mehr Möglichkeiten der Gestaltung für die Versicherten! Das wäre ein Ansatz. Wenn wir dieses soziale Element einbringen würden, käme Bewegung in die Reform. Noch ein Lösungsansatz: Mehr Transparenz über die Quersubventionen! Die kommt langsam. Wir wissen, mit Ausnahme von 2021 fliessen pro Jahr fünf Milliarden Franken von den Erwerbstätigen zu den Rentnern. Diese Umverteilung ist eine «AHVisierung» der zweiten Säule. Die BVG-Logik muss aber erhalten bleiben: Jeder spart für sich. Diese Quersubventionen kann man noch sichtbarer machen. Auf dem Vorsorgeausweis der Versicherten könnte am Jahresende stehen: «So viel Geld geht an die Rentner aufgrund falscher technischer Parameter.» Vielleicht sagen die jüngeren Versicherten sogar: «Das finde ich ok. Ich bin solidarisch.» Vielleicht sagen sie das aber auch nicht. Zurzeit haben wir diese Diskussion noch gar nicht. Wir haben stattdessen die Rentenklau-Debatte, also das weit verbreitete Gefühl, durch die Senkung des Umwandlungssatzes nimmt man den Rentnern etwas weg. Aber der Rentenklau erfolgt in umgekehrter Richtung!

«Wir dürfen nur die unterstützen, die wirklich benachteiligt sind»

Damit die Reform durchkommt, will die Politik allen Versicherten einen Rentenzuschlag geben. Ist das eine gute Idee?

Sie macht mir Sorgen. Denn der Zuschlag wird durch die Aktiven finanziert. Den Zustupf sollen ausserdem auch die bekommen, die von der Reform gar nicht betroffen sind. Bei vielen Kassen liegt der Umwandlungssatz ja schon deutlich unter 6,8 Prozent. Das heisst: Wenn man den Satz per Gesetz senkt, werden die Versicherten das gar nicht spüren. Warum sollten sie dann aber einen Zuschlag bekommen? Wir dürfen nur die unterstützen, die wirklich benachteiligt sind, etwa Versicherte, die nur eine minimale Pensionskassenlösung haben. Und dieser Zustupf muss zeitlich befristet sein. Also: Zuschlag – ja, wenn gezielt und zeitlich limitiert. Aber nicht mit der Giesskanne.

Welche Beispiele für eine funktionierende Vorsorge gibt es ausserhalb der Schweiz? Wo sind andere weiter?

Wenn ich mit Spezialisten aus dem Ausland rede, kommt ein Thema immer: das ominöse Rentenalter. In der Schweiz haben wir eine der höchsten Lebenserwartungen der Welt, doch wir gehen mit 65 Jahren sehr früh in Pension. In siebzehn Industrieländern gilt Rentenalter 67 oder später oder ist zumindest bereits beschlossen. Die Lebenserwartung nimmt täglich drei bis vier Stunden zu. Das heisst nicht, dass ich nun jeden Tag vier Stunden mehr im Büro verbringen sollte, auch wenn ich meinen Job liebe. Aber ein Teil davon auf Arbeit, ein Teil in Rente, das schiene mir ein fairer Deal.

Die Lebenserwartung steigt im Durchschnitt um vier Stunden – ernsthaft, jeden Tag?

Richtig. Also wenn das Gespräch mit mir langweilig gewesen sein sollte – keine Sorge: Sie haben mehr Zeit gewonnen, als sie mit mir verbracht haben. In anderen Ländern ist das Rentenalter deshalb an die Lebenserwartung gekoppelt. Deutschland, Dänemark und andere erhöhen das Rentenalter jedes Jahr um ein paar Monate oder einen Monat. Das ist ein interessanter Ansatz. Der würde vielleicht auch bei uns die politische Blockade lösen. Denn dann hat man nicht mehr dieses Gespenst «Rentenalter 67» vor sich.

Auf welches Land schauen Sie beim Thema Altersvorsorge mit besonderem Neid?

Schweden hat die Altersgrenze ganz abgeschafft, schon lange. Der Prozess läuft sehr transparent. Sie bekommen ein oranges Formular und sehen: Je nach Pensionierungsalter erhalten Sie so und so viel Rente. Wenn Sie früher in Pension gehen, ist die Rente eben kleiner. Nun können Sie selbst entscheiden: Was ist Ihnen wichtig? Auch eine Teilpensionierung ist möglich. Ähnliche Gedanken stecken bei uns hinter den AHV- und BVG-Reformen, eine gute Entwicklung. Neu heisst das Schlüsselwort jetzt «Referenzalter»: Ab diesem Alter gibt es die volle Rente. Wir sind vielfältig, wir haben verschiedene Bedürfnisse. Deshalb sollte man den sanften Übergang ermöglichen.

Stellen Sie sich vor, Sie dürften das Vorsorgesystem auf der grünen Wiese neu errichten. Sie hätten die Möglichkeit und die Macht dazu. Wie würde das System aussehen?

Was ich behalten würde: das Drei-Säulen-Konstrukt. Eine tolle Sache. Erste Säule – universell; die zweite – betriebsspezifisch; die dritte – individuell. Auch gut: die unterschiedlichen Ströme der Finanzierung und wie die Risiken verteilt sind.

Und was würden Sie ändern?

Die erste Säule würde ich neutral gestalten. Gleiches Rentenalter für beide Geschlechter – darüber wurde eben abgestimmt. Und keine Unterschiede bei den Leistungen für Witwer und Witwen. Im Moment fliessen 98 Prozent dieser Leistungen zu Frauen. In der beruflichen Vorsorge würde ich den Koordinationsabzug weglassen, komplett. Und der Umwandlungssatz gehört in die Verantwortung der paritätisch besetzten Stiftungsräte. Die Lohnbeiträge würde ich unabhängig vom Alter gestalten. Das ist das liechtensteinische Modell. In der dritten Säule würde ich die Fristen für die Beiträge aufheben: Heute dürfen Sie nur bis Jahresende einzahlen. Auch hier muss man aber sagen: Viele Biografien verlaufen nicht linear. Vielleicht können Sie ein paar Jahre lang nicht sparen – kleine Kinder, Teilzeit, Weiterbildung. Ein Einkauf müsste also möglich sein, analog zur zweiten Säule. Das wäre mein Idealbild vom Drei-Säulen-Konzept.

Ein unrealistischer Umwandlungssatz geht auf Kosten der nächsten Generation

Ein Thema, mit dem wir immer mehr konfrontiert sind, ist Nachhaltigkeit. Was denken Sie: Wie nachhaltig arbeiten die Pensionskassen?

Die Kassen fokussieren beim Stichwort «Nachhaltigkeit» bisher nur auf die Verwaltung der Vermögen. Wie, wohin wird das Geld investiert? Das stört mich, und es reicht nicht. Wenn Sie heute Renten zahlen mit einem Umwandlungssatz, der nicht realistisch ist, dann tun Sie das auf Kosten der nächsten Generation. Das ist für mich null nachhaltig. Also: Nachhaltigkeit muss beim Vermögen und bei den Leistungsversprechen zu sehen sein.

Man hört oft: «Pensionskasse – o nein, geh weg, interessiert mich nicht!» Wie kann man die Versicherten, gerade die jungen, stärker für die Altersvorsorge begeistern?

Ich wäre schon froh, wenn ich sie sensibilisieren könnte. Begeisterung, das wäre die nächste Stufe. Mehr Wahlfreiheit wäre gut. Sie führt dazu, dass sich Leute eher für etwas interessieren. Man kann jetzt schon Einfluss nehmen auf die zweite Säule. Das Sparkapital lässt sich für Wohneigentum nutzen, in manchen Kassen kann man auch die Beiträge erhöhen. Und bei der Pensionierung kann man wählen: Kapital oder Rente oder beides? Man sollte auch die Pensionskasse wählen können. Wie die Bankverbindung – Sie haben Ihren Lohn, aber wohin er überwiesen wird, das entscheiden Sie. Grossbank, Alternativbank, Regionalbank? Und bei der Anlagestrategie sollten die Versicherten ebenfalls mitreden.

Die Versicherten sollten mitentscheiden, wo ihr Geld hinfliesst?

Ja, genau. Die Pensionskasse könnte zum Beispiel fragen: «Was sind Ihre Präferenzen in Bezug auf die ESG-Kriterien, Umwelt, Soziales, Unternehmensführung?»

Wenn Sie die grosse Glaskugel vor sich hätten – was wäre die schlimmste Prognose für die Vorsorge-Landschaft?

Das Schlimmste wäre, wenn sich nichts bewegt.

Welche drei Empfehlungen können Sie den Pensionskassen also für die Zukunft mitgeben?

Die erste – Gerechtigkeit. Achtet auf das Gleichgewicht zwischen den Generationen. Bevor man Leistungen verspricht oder die Inflation ausgleicht, muss man sich fragen: Wer profitiert, wer finanziert, sind die Lasten und die Risiken fair verteilt? Zweite Empfehlung – Nachhaltigkeit. Die darf man nicht auf Glanzpapier zeigen, nur so zum Schein, man muss sie durch die Tat beweisen. Und nachhaltig muss eine Kasse auch bei den Renten sein, nicht nur bei den Anlagen. Zum Beispiel mithilfe des Umwandlungssatzes. Drittens – Wahlfreiheit. Die blpk zum Beispiel ist eine Sammeleinrichtung. Die angeschlossenen Firmen haben schon massgeschneiderte Vorsorgepläne, je nach ihren Bedürfnissen. Etwa die Universität Basel. Aber der Doktorrand in Biologie und der Doktorrand in Soziologie haben vielleicht ganz andere Vorstellungen in Bezug auf Anlagen. Jetzt sind sie jedoch zusammen in einem Topf. Es braucht auch individuelle Lösungen. Darum: Bieten Sie nicht nur die grossen Töpfe für die Firmen, sondern auch kleine Töpfe, für die Versicherten!

Dieses Interview ist die leicht gekürzte Fassung eines Gesprächs mit Uwe Stolzmann, das im Magazin der blpk, Ausgabe 22.zwei erschienen ist.