Der Bundesrat hat Roberto Balzaretti Ende Januar 2018 zum Chef der Direktion für europäische Angelegenheiten ernannt. In dieser Funktion koordiniert er die gesamten Verhandlungen mit der EU. Im Interview mit Avenir Suisse spricht der Staatssekretär über die Chancen eines Rahmenabkommens für die Schweiz – und über die Fallstricke, die unterwegs lauern.
Avenir Suisse: Herr Staatssekretär, egal an welchem Tag man die Zeitung öffnet: Es geht um Handelskriege. Wie kann die Schweiz als kleines Land ihre Interessen gegenüber Giganten wie den USA und China überhaupt vertreten?
Roberto Balzaretti: Im Prinzip ist das ganz einfach: Die Schweiz kann ihre Interessen effektiv vertreten, wenn Recht gilt. Sobald Macht ins Spiel kommt, wird es schwieriger. Dabei ist die Schweiz gar keine kleine Volkswirtschaft, ganz sicher nicht in wirtschaftlicher Hinsicht. Mindestens 90 Staaten sind, gemessen an der Bevölkerung, kleiner. Dass wir nicht Teil eines grossen Gebildes sind, verleiht uns auch eine gewisse Flexibilität. Es erlaubte uns beispielsweise, ein bilaterales Freihandelsabkommen mit China abzuschliessen.
Das sagen ausgerechnet Sie, der jetzt mit der EU über eine Intensivierung der bilateralen Beziehungen verhandelt!
Wir dürfen nie vergessen, wo wir uns befinden, nämlich mitten in Europa! 50% bis 60% unserer Exporte gehen in die EU; Baden-Württemberg und Bayern sind für uns punkto Handelsvolumen in etwa gleich bedeutend wie China, während die Lombardei in etwa der Grösse Japans entspricht. Was wir in einem Jahr mit Indonesien austauschen, handeln wir an einem einzigen Tag mit der EU. Deswegen ist die Weiterentwicklung der vertraglichen und wirtschaftlichen Basis mit der EU so wichtig. Aber natürlich braucht die Schweiz auch weltweit geordnete Beziehungen.
Stehen diese Tatsachen nicht im Gegensatz zum weit verbreiteten Misstrauen vieler Schweizerinnen und Schweizer gegenüber supranationalen Gebilden?
Bei uns ist dieses Misstrauen historisch gewachsen. Darüber hinaus gibt es diese Ängste vor dem Ungewissen, viele haben das Gefühl, dass sie der Welt und ihrem rasantem Tempo ausgeliefert seien. Noch vor wenigen Jahrzehnten konzentrierte sich die Macht in Bern, nicht in Beijing. Es gibt heute internationale Entwicklungen, auf die wir einen begrenzten Einfluss haben. Die Schweiz kann sich aber im Rahmen der Uno oder der OSZE einbringen, mit guten Ideen ebenso wie mit ihren guten Diensten. Das ist sogar im Kontext der EU möglich, beispielsweise bei der Weiterentwicklung von Schengen/Dublin. Auch Schweizer und Schweizerinnen haben gute Ideen!
Ist das Misstrauen gegenüber Machtkonzentration – wo immer sie auftritt – typisch schweizerisch?
Es ist typisch für einen Bundesstaat, der föderalistisch in drei politische Ebenen aufgeteilt ist. Ich glaube, in jedem postindustriellen Staat, in jedem europäischen Land ist es ein wenig ähnlich.
Sie führen die strategisch wichtigsten Verhandlungen der Schweiz. Wie wollen Sie Ihre Ergebnisse im Inland verkaufen, um das Misstrauen abbauen zu können?
Ich möchte vor allem nicht von «verkaufen» reden. Wir müssen die Bevölkerung in der Schweiz überzeugen, dass wir das Richtige tun. Bundesrat Cassis hat angefangen, zu erklären, was wir erreichen wollen. Das ist ein Novum. Zum ersten Mal in der Geschichte legen wir unser Verhandlungsmandat transparent auf den Tisch. Noch ausgenommen sind kleinere, komplizierte technische Fragen. Aber die werden wir auch erklären. Meine Antwort auf Ihre Frage lautet also: Transparenz schaffen, mit Fakten arbeiten und überzeugen. Diese Strategie erzeugt Vertrauen. Sie birgt aber auch gewisse Risiken. Man thematisiert Dinge, die vielleicht nicht umgesetzt werden können.
Sie würden also sagen, dass ein Paradigmenwechsel stattgefunden hat in den Verhandlungen mit der EU?
Auf jeden Fall. Früher gab es zuerst Konsultationen und geheime Verhandlungen, anschliessend wurden die Ergebnisse veröffentlicht. Erst danach begann die politische Auseinandersetzung im Inland, die allenfalls in einer Volksabstimmung ihren Abschluss fand. Das läuft heute nicht mehr so. Nehmen wir die Verhandlungen über das institutionelle Abkommen: Wir haben jetzt schon begonnen, zu erklären, was wir erreichen wollen, und wir werden es laufend weiter erklären. Der Begriff der «fremden Richter» ist nicht zuletzt ein Thema geworden, weil wir vor drei, vier Jahren nicht bereit waren, zu erklären, worum es im Grunde ging. Heute kann man nicht mehr im gleichen Sinn von fremden Richtern sprechen, weil wir in der Verhandlung mit der EU mit einem anderen Modell, dem Schiedsgericht, arbeiten wollen.
Sie haben technische Fragen erwähnt. Komplexe Sachverhalte zu erklären und eine differenzierte Sichtweise zu vertreten, ist schwierig. Wie wollen Sie dabei vorgehen?
Indem man das Vertrauen schafft, dass die groben Linien stimmen. Dazu sind Transparenz und Ehrlichkeit der Schlüssel. Im Verhältnis Schweiz-EU geht es darum, das effiziente Funktionieren von fünf bestehenden Abkommen zu gewährleisten und die Grundlage für den Abschluss neuer Marktzugangsabkommen – darunter das Strommarktabkommen – zu liefern. Zwei Aspekte stehen dabei im Vordergrund: die allgemeine Dynamisierung der Beziehungen und die Beilegung möglicher Streitigkeiten – d.h. die Festlegung eines rechtlichen Vorgehens, falls uns etwas nicht gefallen sollte.
In der Schweiz wird befürchtet, dass die EU nach Abschluss eines Rahmenabkommens eigenmächtig die Spielregeln ändert, ohne dass wir uns dagegen wehren könnten. Wie sehen Sie das?
Die Normen, über die wir verhandeln, unterliegen einer gewissen Dynamik. Sie können das mit Ihrem Smartphone vergleichen: Ohne regelmässige Updates funktioniert es eines Tages nicht mehr. Nicht sofort, aber irgendwann wird das eintreffen. Genauso verhält es sich mit der Dynamisierung. Allerdings ist der Prozess – im Gegensatz zum Smartphone – transparenter und kontrollierbarer: Die Richtlinien der Abkommen sind bekannt, bei der Weiterentwicklung sitzen wir mit am Tisch. Wir wissen also, was auf uns zukommt. Und wir können selber bestimmen, ob wir ein Update durchführen wollen – also einen Entscheid mittragen – oder nicht. Falls nicht, lautet die Konsequenz, dass irgendwann die Abkommen nicht mehr funktionieren. Natürlich ist es schwierig, die negativen Konsequenzen des Nichthandelns, bzw. das Verharren im Status quo zu beschreiben, aber wir versuchen es.
Wodurch würde sich eine dynamische Rechtsübernahme gegenüber der heutigen Regelung unterscheiden?
Heute sind die meisten Abkommen statisch. Die EU entwickelt sich aber laufend weiter und fordert die Schweiz zum Nachvollzug auf (dies geschieht in den zuständigen Gemischten Ausschüssen) – allerdings ohne Pflicht zum Nachvollzug. Es kann dabei passieren, dass Rechtsungleichheiten entstehen, die zu Behinderungen beim Export für Schweizer Unternehmen führen können. Datieren wir unser Recht nicht auf, finden in der Regel Diskussionen mit der EU statt. Mit der Dynamisierung würden wir uns im Voraus verpflichten, die Rechtsentwicklung unseren Gegebenheiten entsprechend mitzutragen. Es geht darum, in den Marktzugangsabkommen die Homogenität der rechtlichen Grundlagen zwischen der Schweiz und der EU sicherzustellen. Eine Nicht-Übernahme durch die Schweiz würde der EU das Recht geben, Ausgleichsmassnahmen zu treffen. Diese müssten jedoch verhältnismässig sein. Die Kosten eines nicht-dynamischen Nachvollzugs mit einem Rahmenabkommen wären gegenüber heute transparenter, wir hätten auch die Möglichkeit, gegen die EU den Rechtsweg zu beschreiten. Heute ist dies nicht gegeben.
Man wirft der Schweiz oft vor, unsere politischen Prozesse dauerten zu lange, was gerade im Fall der diskutierten dynamischen Rechtsübernahme ein Problem darstellen könnte. Kann uns diese Langsamkeit nicht auch vereinzelt vor Fehlern bewahren?
Wir sind gründlich und müssen es auch sein. Wir wissen deshalb schon heute, was die EU in wichtigen Bereichen vorbereitet. Mit einem institutionellen Abkommen wären wir enger einbezogen und könnten uns stärker einbringen, als dies heute der Fall ist. Man könnte mit der EU zusammen überlegen, anstatt warten zu müssen, bis uns ein neuer Rechtsakt vor vollendete Tatsachen stellt. Bei «Schengen» haben wir bereits rund 140 Rechtsakte übernommen, es gab dabei nie ein grosses zeitliches Problem. Im Fall der Übernahme der Vorschriften zu den biometrischen Pässen kam es sogar zu einer Volksabstimmung. Niemand in der EU bestreitet unsere spezifischen Schweizer Verfahren. Durch ein institutionelles Abkommen hätten wir zwei Jahre Zeit für die nationale Umsetzung, plus ein Jahr im Falle eines Referendums. Dies sollte reichen und wäre eine gute, gangbare Lösung.
Stichwort Verhandlungstempo: Verschiedentlich wird von einem «Window of Opportunity» bis im Sommer oder maximal Herbst 2018 gesprochen. Entspricht das den Tatsachen, und ist dieser Zeitdruck hilfreich oder eher hinderlich?
Wir fühlen uns nicht unter Zeitdruck, wichtig ist ein gutes Verhandlungsergebnis. Im Bereich der Streitbeilegung diskutieren wir die Idee eines Schiedsgerichts. Wir haben vom Bundesrat ein klares Mandat, welches u.a. sagt, dass gewisse Aspekte, die sogenannten roten Linien, nicht zur Diskussion stehen – beispielsweise die flankierenden Massnahmen. Wenn uns das Resultat der Verhandlungen nicht befriedigt, werden wir kein Abkommen unterzeichnen.
Aber gewonnen wäre damit wohl nichts – im Gegenteil.
Klar, 2019 wird alles komplizierter mit den Wahlen in der EU, einer neuen EU-Kommission und unseren eigenen Wahlen. Aber am Ende muss das Abkommen für die Schweiz stimmen. Wenn wir zu wenig erreichen, bleiben wir beim Status quo, mit allen Vor- und Nachteilen. On ne fait pas de l’art pour l’art.
Wann käme nach diesem Jahr die nächste, realistische Verhandlungsgelegenheit?
Eine Angabe wäre rein spekulativ. Wenn es so weit käme, müssten wir aber eine neue Linie vor einer Wiederaufnahme der Verhandlungen definieren. Ein Scheitern in diesem Jahr würde jedoch nicht heissen, dass wir uns ab 2019 in einem rechtsfreien Raum befänden. Wir könnten einfach die bestehenden Abkommen nicht so anpassen , wie wir es uns für unsere Unternehmen wünschen. Auch hat uns die EU unmissverständlich klargemacht, dass wir ohne ein Rahmenabkommen keine neuen sektoriellen Marktzugangsabkommen abschliessen können. Dessen müssen wir uns bewusst sein.
Öffnet der Austritt Grossbritanniens aus der EU neue Chancen für die Schweiz?
Nein – im Gegenteil. Wir brauchen eine starke EU. Je schwächer sie ist, desto schwieriger ist es für die Gemeinschaft, der Schweiz Ausnahmen zu gewähren. Ausserdem sind wir sowohl auf gute Beziehungen zur EU als auch zu den Briten angewiesen. Wir hoffen darauf, dass die Übergangsphase nach dem Brexit möglichst störungsfrei abläuft. Die EU wächst in rechtlicher Hinsicht seit zwanzig Jahren immer mehr zusammen, und – ausser Liechtenstein – gehören alle unsere Nachbarn dazu. Für die Schweiz bleibt deshalb die wichtigste Frage immer dieselbe: Haben wir Marktzugang? Die Grenzen zu unseren Nachbarn werden auch in zwanzig Jahren noch da sein.
Wie sehen Sie das Verhältnis der Schweiz zur EU in zehn Jahren?
Zehn Jahre sind eine kurze Zeitspanne. Wir müssen heute die Voraussetzungen dafür schaffen, auch später frei entscheiden zu können, was wir tun. Mit einem abgeschlossenen Rahmenabkommen könnten wir entspannter in die Zukunft blicken. Ohne diese Basis wird es schwieriger, in acht bis zehn Jahren Wünsche zu äussern oder gar Forderungen zu stellen. Ich denke dabei an weitere Marktzugangsabkommen. Kurzfristig brauchen wir wieder mehr Ruhe, mittelfristig eine neue Ordnung im Verhältnis mit der EU, und längerfristig weiteres Entwicklungspotenzial als Volkswirtschaft.