Das Personenfreizügigkeitsabkommen mit der EU sieht vor, dass unter bestimmten Bedingungen die Zuwanderung während maximal zweier Jahre wieder kontingentiert werden kann. Konkrete Bedingung für die Anwendung der sogenannten Ventilklausel ist, dass die Zuwanderung den Durchschnitt der drei vorangegangenen Jahre um mindestens 10 Prozent überschreitet. Im Fall unbefristeter Aufenthaltsbewilligungen für Zugewanderte aus der EU-8 (Estland, Lettland, Litauen, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien und Ungarn) – und nur in diesem Fall – sind diese Voraussetzungen seit Sommer 2011 formell erfüllt.

Der Bundesrat hat deshalb in Aussicht gestellt, dass er auf den 1. Mai 2012 als letztmöglichen Termin die Anrufung der Ventilklausel prüfen werde. In den Jahren 2008 bis 2010 hatte er für die Zuwanderung aus den EU-17/Efta-Staaten auf die Anwendung der Ventilklausel noch verzichtet, obwohl die Voraussetzungen teilweise erfüllt waren. Hauptgründe für den damaligen Verzicht waren die günstige Arbeitsmarktlage und die anhaltend hohe Nachfrage nach Arbeitskräften.

Dieselben Gründe sprechen auch heute immer noch gegen die Anrufung der Ventilklausel: Auf dem Schweizer Arbeitsmarkt herrscht weiterhin Vollbeschäftigung, die Arbeitslosigkeit von Schweizern ist äusserst tief, und Zugewanderte ergänzen den einheimischen Arbeitskräftepool, ohne ihn zu konkurrenzieren. Zudem ist die Schweiz dank der Personenfreizügigkeit sehr glimpflich durch die Krise gekommen.

Wie jüngst von Seco-Direktor Serge Gaillard betont wurde, dürfte die Wirkung einer Anwendung der Ventilklausel zum jetzigen Zeitpunkt sehr gering sein. Im besten Fall ist mit einem Rückgang der Zuwanderung um gerade einmal 4000 Personen zu rechnen. Die Befürworter einer Anwendung der Ventilklausel führen denn auch nicht ökonomische und arbeitsmarktliche Argumente ins Feld, sondern politische: Der Bundesrat müsse jetzt ein Signal aussenden, wonach er das angeblich weitverbreitete Unbehagen in der Bevölkerung gegen die ungebremste Zuwanderung ernst nehme. Es wird klar, dass es hier in erster Linie um symbolische Politik geht, nach dem Motto «Nützt es nichts, schadet es nichts».

Gleichzeitig gilt aber auch: «If it ain’t broke, don’t fix it.» Der Schaden einer Anwendung der Ventilklausel wäre nämlich durchaus real. Erstens würde die mechanistische Anrufung der Ventilklausel das der Personenfreizügigkeit zugrundeliegende Prinzip der nachfragegetriebenen Zuwanderung aushebeln. Jeder Zugewanderte braucht den Nachweis einer Arbeitsstelle, bevor er eine Niederlassungsbewilligung erhält.

Die Zuwanderung entspricht damit einem ausgewiesenen Bedürfnis der Wirtschaft. Mit der Kontingentierung würde man dagegen wieder in das frühere Paradigma der Feinsteuerung und Rationierung zurückfallen, das erwiesenermassen gescheitert ist. Der Bundesrat sollte nicht Symbolpolitik betreiben und diffuse Gefühlslagen und Befindlichkeiten bewirtschaften, sondern für eine geradlinige und glaubwürdige Arbeitsmarkt- und Zuwanderungspolitik einstehen. Das ist der beste Garant dafür, dass die Zustimmung der Bevölkerung zur Personenfreizügigkeit erhalten bleibt.

Durch rein taktisch motivierte Konzessionen an die Gegner der Personenfreizügigkeit diskreditiert er dagegen sich und seine Politik. Das kann nicht im Interesse der Schweiz sein.

Dieser Artikel erschien in der «Neuen Zürcher Zeitung» vom 15. März 2012.
Mit freundlicher Genehmigung der «Neuen Zürcher Zeitung».