Vor nicht allzu langer Zeit kaum vorstellbar, heute Realität: Die Corona-Pandemie hält die Gesellschaft seit über einem Jahr im Griff und die Entscheidungsträger auf Trab. Als Folge jähren sich nun die damit verbundenen Ereignisse erstmals. Aus demokratiepolitischer Sicht sticht besonders der morgige Tag heraus: Am 16. März 2020 institutionalisierte der Bundesrat die sich landesweit abzeichnende Schockstarre, indem er auf Basis des Epidemiengesetzes die «ausserordentliche Lage» ausrief, was ihm im Zusammenspiel mit Artikel 185 der Bundesverfassung fortan erlaubte, auf dem Verordnungsweg notrechtliche Massnahmen in Gang setzen. Anlass genug, die Auswirkungen der Corona-Krise auf die schweizerische Demokratie kritisch zu beleuchten und im Sinne von «nach der Krise ist vor der Krise» Lehren für künftige Notlagen zu ziehen.
Politischer Sinneswandel tut Not
Eine solche halten die Beschlüsse des Bundesrates bereit, die eidgenössische Volksabstimmung vom 17. Mai 2020 zu verschieben und einen Fristenstillstand für die Einreichung von Volksinitiativen und Referenden zu verfügen. Die Einschränkung der politischen Rechte stand von Beginn weg auf tönernen Füssen. So erschloss sich die Argumentation bereits letztes Jahr nicht, ein umfassender Meinungsbildungsprozess sei durch die pandemiebedingten Schutzmassnahmen verunmöglicht, wenn gleichzeitig die öffentliche Debatte über diese Umstände auf allen digitalen Kanälen stattfand. Genauso wenig war die Ausübung des Wahl- und Stimmrechts entscheidend beeinträchtigt, wie etwa die reibungslos abgelaufenen Wahlen im Kanton Schwyz oder in der Stadt Luzern zeigen. Der oft beschworene Gang zur Urne stellt heute lediglich eine Versinnbildlichung der Stimmabgabe dar. So betrug der Anteil der Briefwahlstimmen in urbanen wie ländlichen Kantonen bereits vor der Corona-Krise über 90 Prozent.
Zur Wahrung der direkten Demokratie in Krisenzeiten reichen diese Argumente allerdings nicht aus. Je nach Krise oder Eigenschaften eines Virus könnte sich eine abweichende Beurteilung ergeben. Nur die konsequente Digitalisierung der Demokratie wird Erleichterung bringen. Die flächendeckende Einführung von E-Collecting und E-Voting bedingt jedoch zuallererst einen Sinneswandel in der Politik. Denn eine Mehrheit der Entscheidungsträger tut sich weiterhin schwer damit, ihre seit langem anhaltende Opposition gegenüber der Digitalisierung der Demokratie und des Parlamentsbetriebs abzulegen. Die Pandemie bietet dafür die Chance zum Neustart.
IT-Architektur frühzeitig offenlegen
Dabei geht es nicht nur darum, der konsequenten Digitalisierung der demokratischen Abläufe einen grundsätzlich höheren Stellenwert einzuräumen. Ebenso ist es entscheidend, die technischen Aspekte der Digitalisierungsprojekte frühzeitig im Entscheidungsprozess zur Debatte zu stellen. Das bedeutet, dass grundsätzliche Fragen zur IT-Architektur wie etwa zum Datenschutz nicht erst auf dem Verordnungsweg detailliert werden sollen, sondern in der Konzeptionsphase offenzulegen sind. Indem der Staat diesen als «privacy by design» bekannten Ansatz umsetzt, nimmt er seine Verantwortung gegenüber der Bevölkerung wahr, Transparenz zu schaffen. Ausgerechnet die am 7. März von der Stimmbevölkerung verworfene Abstimmungsvorlage zur elektronischen Identität (E-ID) könnte hier einen Fortschritt bringen. So haben Gewinner und Verlierer der Abstimmung gemeinsam einen Vorstoss für eine Neuauflage des überfälligen Vorhabens eingereicht, der sich an den Grundsätzen «privacy by design», Datensparsamkeit und dezentrale Datenspeicherung orientiert.
Weg vom reinen Exekutiv-Krisenmanagement
Aus staatspolitischer Sicht ist besonders die Langfristigkeit des gegenwärtigen Stresstests der Demokratie zu beanstanden. Zwar muss der Bundesrat gemäss dem Covid-19-Gesetz das Parlament über seine Beschlüsse informieren und die Kantone dazu anhören. Faktisch kann die Landesregierung allerdings, auch beinahe ein Jahr nach Ausbruch der Pandemie, ein zentralstaatliches Exekutiv-Krisenmanagement betreiben, das in seiner Form weit entfernt von den üblichen Entscheidungsstrukturen ist.
Hier besteht Handlungsbedarf. Mit Fortbestand einer Krise – so ausserordentlich sie auch sein mag – sollte man sich dem Zusammenspiel zwischen Bundesrat und Parlament in normalen Zeiten annähern, das sich im internationalen Vergleich durch ein äusserst ausgeglichenes Machtverhältnis zwischen Exekutive und Legislative auszeichnet. Dieses verfassungsrechtlich abgestützte Gleichgewicht sollte einer Krise zum Trotz nicht allzu lange ausser Kraft gesetzt werden. Eine Möglichkeit, den bundesrätlichen Sonderbefugnissen eine parlamentarische Kontrolle entgegenzusetzen, besteht in der Berufung einer temporären, aus Vertreterinnen und Vertretern beider Kammern zusammengesetzten Krisenkommission.
Um eine solche «Dauer-Sondersession» einberufen zu können, sollten die parlamentarischen Infrastrukturen in Krisensituation und begründeten Ausnahmefällen auf einen virtuellen Betrieb umstellen können. Dem Milizparlament würde dadurch die umfangreichere Begleitung des bundesrätlichen Krisenmanagements erheblich erleichtert. Ein «e-Parlament» wäre der Handlungsfähigkeit der Räte auch zu Beginn einer Krise zuträglich, sodass sich die Vorgänge Mitte März 2020 nicht wiederholen, als sich die Legislative selbst ausser Kraft setzte.
Ein Teil der Politik scheint die Zeichen der Zeit zu erkennen. In der laufenden Frühjahrssession wurde im Ständerat eine Motion eingereicht, die eine gesetzliche Grundlage für einen verbesserten Einbezug des Parlaments in künftigen Pandemien fordert. Im Nationalrat steht zudem die Behandlung einer Interpellation zum Thema «e-Parlament» an. So scheint verhaltener Optimismus dafür, dass am zweiten Jahrestag des bundesrätlichen Beschlusses zur «ausserordentlichen Lage» die Bemühungen für eine krisenfeste Demokratie fortgeschritten sind, nicht unangebracht.
Weitere Informationen zum Thema finden Sie in der Studie «Demokratie und Föderalismus auf Corona-Irrfahrt?».