In der liberalen Chancengesellschaft kommt dem Bildungssystem und insbesondere den Hochschulen eine entscheidende Rolle zu. Sie bilden die Arbeitskräfte der Zukunft aus, schaffen Innovation und pflegen das kulturelle Erbe der Gesellschaft. Für Bildung wendet die öffentliche Hand denn auch fast ein Fünftel ihrer Finanzmittel auf. An der Avenir-Suisse-Hochschultagung in Zürich diskutierten Experten aus dem In- und Ausland die Zukunft des Schweizer Bildungssystems.
Dass die Diskussion um Fake News ausgerechnet in den Vereinigten Staaten auf fruchtbaren Boden fallen, wundert Rolf Tarrach nicht weiter: In seiner Präsentation anlässlich der Avenir-Suisse-Hochschultagung in Zürich verwies der Präsident der European University Association (EUA) auf das riesige Gefälle zwischen den Spitzenuniversitäten und dem dürftigen Allgemeinwissen des durchschnittlichen Amerikaners. Als ehemaliger Rektor der dreisprachigen Universität von Luxemburg und Professor an zahlreichen anderen europäischen Hochschulen ist Tarrach ein überzeugter Anhänger babylonischer Vielfalt.
An den über 800 der EUA angeschlossenen europäischen Universitäten lernen 18 Millionen Studierende aus 48 Ländern. Dieses Spektrum von Wissen verfüge im Vergleich zu den amerikanischen und asiatischen Universitäten über einen einzigartigen Wert.
Schwächen des europäischen Hochschulsystems identifiziert Tarrach bei der Governance, bei der Finanzierung und der (zu) grossen Detailsteuerung durch Politik mit dem Erlass von administrativen Vorschriften. Letzteres berge gerade beim Lehrkörper die Gefahr einer Verbeamtung.
Technologie als «geringstes Problem»
Die Bedeutung der Hochschulbildung für die Wirtschaft strichen Marianne Janik, General Manager Microsoft Schweiz, sowie Roland Fischer, CEO von Oerlikon, aus den unterschiedlichen Perspektiven des Software- und des Industrieunternehmens hervor. Janik fokussierte auf die kommenden Herausforderungen der Smart City mit den Stichworten Technologie, Plattformökonomie, Ökologie und Vernetzung. Wobei für die Digitalisierungs-Managerin die Technologie «noch das geringste Problem» darstelle.
Es sei vielmehr ein Mangel an Fachkräften, der dazu führe, dass die Schweiz digital nicht wettbewerbsfähig sei. Das KMU-Land brauche Menschen mit der Fähigkeit, neue Technologien in ihren traditionellen Geschäftsmodellen unterzubringen. Allerdings betonte Janik auch die Bedeutung von Menschen mit Fähigkeiten zu vernetztem Denken, zur Kommunikation sowie der Möglichkeit, ethische Fragen zu stellen und einen kritischen Umgang mit Technologie zu pflegen.
An dieser Stelle konnte der Vertreter des weltweit tätigen Schweizer Technologiekonzerns Oerlikon einhaken: Ein global aufgestelltes Industrieunternehmen schlafe nie, sondern verhalte sich wie ein lebender Organismus, erklärte Roland Fischer. Die Grenzen verschwänden nicht nur räumlich, sondern auch zwischen der Old- und der New-Economy. Dies verändere nicht nur die betrieblichen Abläufe, sondern die Gesellschaft als Ganzes. Inkrementelle Verbesserungen reichten nicht mehr aus, um mit China oder den USA im Wettbewerb bestehen zu können. Spin-offs von Hochschulen und technisch versierte Fachkräfte werden nicht nur in den einschlägigen Bereichen der Digitalisierung gebraucht, sondern auch in klassischen Industriebetrieben – in Fall von Oerlikon beispielsweise bei der Materialentwicklung.
Die anschliessende Diskussion bestätigte die Bedeutung von Fokussierung einerseits und einem gewissen Forschungsspektrum anderseits: «Exzellenz existiert nicht ohne Vielfalt», betonte die Microsoft-Managerin und pflichtete Fischer bei, der das erste Modul auf den Punkt brachte: «Probleme werden nicht nur aus technischer Perspektive gelöst.»
«Partnerschaften säen, neue Talente ernten»
Im zweiten Modul zeigte Vice President Maggie Dallman die Bedeutung der internationalen Verflechtung des Imperial College London auf, wo zu mehr als der Hälfte ausländische Studenten eingeschrieben sind.
Die global vernetzte Institution verfügt über Kooperationen mit 130 Universitäten weltweit, darunter auch in Afrika. Es gehe darum, neue Partnerschaften zu säen und so neue Talente zu ernten, sagte Dallman. Insofern stelle der Brexit für das Imperial College ein besorgniserregendes Problem dar – und dies nicht nur für die Schule selber, sondern auch für den Standort London: Der neu erstellte Campus in einem wenig privilegierten Stadtteil der britischen Metropole diene als lokaler Ankerpunkt für soziale Integration von Benachteiligten.
Einen ganz anderen Zugang zum globalen Bildungssystem stellte Phil Baty, Chefredaktor des «Times Higher Education»-Rankings (THE), vor. Seine Institution untersucht und vergleicht 1250 Universitäten in 86 Ländern und schafft damit nicht nur Transparenz, sondern fördert zumindest bis zu einem gewissen Grad den Wettbewerb, indem er die Charakteristika einer Weltklasse-Hochschule definiert.
Naturgemäss ecken solche Rankings bei den Beurteilten an – insbesondere, wenn sie ihre Leistungen inadäquat beurteilt glauben. Die Schweiz indes hat wenig zu klagen, liegt sie doch regelmässig in den vordersten Rängen. Gemäss Batys Zahlenanalyse vermarkten sich die Schweizer Hochschulen allerdings nicht gut genug, weshalb sie im internationalen Wettbewerb tendenziell unterschätzt würden und dadurch weniger Talente anziehen, als möglich wäre.
Edouard Bugnion, Vice-President Information Systems an der EPFL, zeichnete den Weg von rein rechnerischen Forschungsmethoden zum «computational thinking» nach. Selber hatte der gebürtige Neuenburger nach seiner Ausbildung zum Informatikingenieur an der ETH Zürich 18 Jahre in den USA verbracht, wo er in Stanford studierte und zwei Startups mitbegründete, die er an Cisco verkaufte. Während sich die traditionelle polytechnische Ausbildung bisher auf Mathematik und Physik beschränkt hätte, basiere das Curriculum der EPFL in Zukunft auf einer zusätzlichen dritten Säule, dem «Computational Thinking», erklärte Bugnion.
Die drei Einheiten des aristotelischen Theaters, die Einheit der Zeit, des Ortes und der Handlung, hätten lange auch für die Wissenschaften gegolten. Heute würden diese Säulen zunehmend obsolet: Hochschulen bilden nicht nur auf ihrem Campus aus, sondern weltweit oder im virtuellen Raum. Lerninhalte würden zunehmend kontextbezogen vermittelt, und ein Studium sei mit der Übergabe des Abschlussdiploms nicht endgültig abgeschlossen. In Zukunft würden Universitätsportfolios, Kompetenzen und Projekte kontinuierlich aufdatiert. «Bereiten Sie sich darauf vor, lebenslang zu lernen», sagte Bugnion.
In der Diskussion der zweiten Session wurde der Mangel an Frauen in den Mint-Fächern thematisiert: Maggie Dallman merkte an, dass nicht etwa in der Universitätsleitung die Vertretung der Frauen unterdurchschnittlich sei, sondern vor allem auf der Ebene der Professoren. – «Es nehmen nicht genügend Frauen ein entsprechendes Studium an der EPFL auf», bestätigte Bugnion.
«Die Leute werden nicht klüger»
Im dritten Modul präsentierte Matthias Ammann die Erkenntnisse der Avenir-Suisse-Studie «Exzellenz statt Regionalpolitik im Hochschulraum Schweiz».
Kernpunkte darin sind finanzielle Fehlanreize und immobile Studierende, welche eher eine Nivellierung als Ausdifferenzierung bewirken. Er mahnte insbesondere, dass eine der herausragenden Eigenschaften des Schweizer Hochschulraumes die Internationalität sei. Diese Offenheit gälte es auch in Zukunft zu verteidigen.
Damit lieferte er einen Steilpass an Crispino Bergamaschi, den Direktionspräsidenten der Fachhochschule Nordwestschweiz und Präsidenten der Kammer FH von Swissuniversities.
Sein Vortrag mündete in eine Reihe von Fragen, die gelöst werden müssten: Wie soll der Bedarf an zusätzlichen Fachkräften gedeckt werden – mit Import von Talenten oder «Eigenproduktion»? Wie kann die freie Studienwahl differenziert gesteuert werden? Welches ist die «ideale» Anzahl Hochschulen? Unterstützt uns der föderale Wettbewerb oder braucht es eine nationale Strategie? Eines sei sicher: «Die Leute werden nicht klüger» – will heissen: Der Pool an potenziellen Fachkräften in der Schweiz ist trotz allen Bildungsanstrengungen endlich.
Markus Zürcher von der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften legte sich für seinen Fachbereich fulminant ins Zeug. Anhand von Zahlenmaterial stellte er klar, dass die Geistes- und Sozialwissenschaften zusammen mit den Rechtswissenschaften zu den günstigsten Studiengängen gehören.
Gleichzeitig tendiere die Erwerbslosigkeit von Akademikern aus diesen Studienrichtungen gegen Null. Es werde in der Hochschulpolitik zu sehr auf «produktförmige Innovation» fokussiert, gleichzeitig würde die Bedeutung von wissenschaftlichen Publikationen und Ratings überbewertet. Im Bereich der Projektförderung würden vor allem die strategischen Erfolgsversprechen honoriert und weniger die tatsächlich erreichten Ergebnisse, was zu einer Blüte der «Antragsprosa» führe. Entsprechend werde gefördert, was vom Gegebenen abgeleitet werden kann, während das Unvorhersehbare, das Unerwartete ausgeschlossen werde. Es brauche auch bei der Förderung Ergebnisoffenheit, Möglichkeitsräume und Forschung als suchende Bewegung.
Einen pointierten Standpunkt der Politik vertrat Nationalrat Christoph Eymann, langjähriger EDK-Präsident und ehemaliger Erziehungsdirektor von Basel-Stadt. Allen Diskussionen über Effizienzsteigerungen und Fokussierung in der Hochschulpolitik zum Trotz war sein Verdikt eindeutig: «Es braucht mehr Mittel!»
Dass zusätzliche Gelder weniger vom Staat als von Privaten kommen müssten, ist für ihn unbestritten. Entsprechend dürften private Geldgeber nicht stigmatisiert werden. Es existierten zurzeit nicht genügend Anreize, in Hochschulen zu investieren. Weniger begeistert zeigte sich Eymann vom Vorschlag, die Studiengebühren substanziell zu erhöhen, weil hohe Abgaben von Studierenden der Schweizer Tradition widersprächen. Punktuelle Anpassungen seien zwar möglich, und auch eine Erhöhung der Studiengebühren für Ausländer könne diskutiert werden – man müsse jedoch aufpassen, damit nicht internationale Verträge zu verletzen. Einig mit seinen Vorrednern war Eymann im Punkt, wonach die Autonomie der Hochschulen zu stärken sei.
Dünger statt Giesskanne für die Bildungslandschaft Schweiz
Unter der Leitung von NZZ-Inlandredaktor Marc Tribelhorn diskutierten zum Schluss Detlef Günther, Vizepräsident für Forschung & Wirtschaftsbeziehungen der ETH Zürich, Michael Hengartner, Rektor der Universität Zürich und Präsident von Swissuniversitites, Stefan Kölliker, Regierungspräsident des Kantons St. Gallen und Vizepräsident der Schweizerischen Hochschulkonferenz, sowie Lukas Gähwiler, VR-Präsident der UBS Schweiz.
Zwar waren sich die Teilnehmer über die Bedeutung der Hochschulbildung für den Wirtschaftsstandort Schweiz und die zuvor diskutierten Probleme wie Regionalismus, bedrohte Finanzierung, Fachkräftemangel und steigenden Wettbewerb einig. Trotzdem zeigten sich die Bruchlinien in der schweizerischen Hochschulpolitik: So warnte Lukas Gähwiler vor dem Aufholen der Konkurrenz, während Stefan Kölliker die regionalpolitische Bedeutung von tertiärer Bildung hervorstrich.
Dass sich die Schweizer Hochschullandschaft weiterentwickeln muss, ist unbestritten. Der Handlungsbedarf für die Bildungslandschaft Schweiz mit mehr Wettbewerb, einem zeitgerechten Finanzierungssystem und mehr Arbeitsmarktorientierung erwies sich als offensichtlich, um auch die digitale Transformation bewältigen zu können, stellte Avenir-Suisse-Direktor Peter Grünenfelder in seinem Fazit fest. Die Diskussion ist eröffnet.
Links:
Avenir-Suisse-Hochschultagung: Programm und Redner
Peter Grünenfelder: Einführung
Rolf Tarrach: Future Universities Thoughtbook 2018
Marianne Janik: Modernisierung des Schweizer Bildungswesen
Roland Fischer: Exzellenz in Hochschule und Wirtschaft
Maggie Dallman: Imperial College London
Phil Baty: The changing geopolitics of world class research and innovation
Pierre Vandergheynst / Edouard Bugnion: The Role of Universities in the Digital Transformation of the Society
Matthias Ammann: Exzellenz statt Regionalpolitik
Crispino Bergamaschi: Schweizerische Hochschulen am Scheideweg
Markus Zürcher: Die Stellung der Geistes- und Sozialwissenschaften im Hochschulsystem
Christoph Eymann: Internationale Hochschulen regionale Politik – ein Widerspruch