«Rote Linie Lohnschutz!» war in fetten Buchstaben auf dem Transparent zu lesen, das die Gewerkschaftsfunktionäre bei ihrer Demonstration durch die Gassen Berns vor sich hertrugen, welche sich gegen das Institutionelle Abkommen (InstA) richtete. Nur mit den im Rahmen der Personenfreizügigkeit (PFZ) eingeführten flankierenden Massnahmen (FlaM) sei der Lohnschutz gewährleistet, liess ihr Sekretariatsleiter verlauten.

Doch der gewerkschaftlichen Aufgeregtheit sind Fakten entgegenzuhalten. Zum Mechanismus: Meldepflichtig und von den FlaM betroffen sind heute alle Einsätze von aus dem Ausland entsandten Arbeitnehmenden in die Schweiz, wenn sie acht Tage pro Jahr überschreiten. Diese sind in drei Kategorien aufgeteilt: kurzfristige Stellenantritte für die Dauer von weniger als 90 Tagen bei Schweizer Unternehmen, selbständig erwerbende Dienstleistungserbringer sowie Entsandte von ausländischen Unternehmen in die Schweiz. Im Jahr 2017 waren total rund 300’000 Kurzaufenthalter in unserem Land tätig. Doch im Gegensatz zur EU, wo Entsendungen bis 12 Monate möglich sind, ist die Dauer hierzulande auf 90 Tage limitiert.

Gerade im Tieflohnsegment weist die Personenfreizügigkeit den grössten – und notabene positiven – Lohneffekt auf. (ETH Bibliothek Zürich, Bildarchiv)

Damit ist die Bedeutung der Kurzaufenthalter im Verhältnis zur Gesamtbeschäftigung äusserst gering. Sie umfasst gerade mal 0,7% der Schweizer Beschäftigung. Das entspricht etwa dem Personalbestand der SBB. Selbst im exponierten Bausektor beträgt der Anteil der Kurzaufenthalter nur 1,7%. Die FlaM betreffen also einen sehr kleinen Teil der Arbeitnehmenden. Aufgrund des Mangels an einheimischen Arbeitskräften ersetzen Kurzaufenthalter die ansässige erwerbstätige Bevölkerung nicht, sondern ergänzen diese. Seit 2007 ist eine Zunahme der Kurzaufenthalter jeweils von einem deutlich grösseren Anstieg der Gesamtbeschäftigung begleitet worden. Selbst im Rezessionsjahr 2009 war diese komplementäre Beziehung zu beobachten. Ebenso wenig lässt sich eine negative Auswirkung der Entsendungen auf die Löhne beobachten. Vielmehr weist die PFZ den grössten – und notabene positiven – Lohneffekt im Tieflohnsegment aus.

Die beste Garantie zum Erhalt der hohen Beschäftigungsquote ist nach wie vor eine wirtschaftlich weltoffene Schweiz, in der Rechts- und Investitionssicherheit herrschen. Gegen eine Million Arbeitsplätze hängen von Schweizer Exporten in die EU ab. Bei einem Nicht-Abschluss des InstA besteht das Risiko, dass der bisherige erfolgreiche Weg mit dem präferierten Zugang unserer Unternehmen zum EU-Binnenmarkt schleichend erodiert. Anstatt den Lohnschutz zur roten Linie zu (ver-) klären, der vermeintlich nur dank den FlaM aufrechterhalten werden könne, täten die Gewerkschaften gut daran, sich für den Erhalt der Arbeitsplätze hierzulande einzusetzen. Dazu braucht es aber auch die Einsicht, dass der Zugang zum europäischen Markt unabdingbar bleibt.

Dieser Beitrag ist am 17.1.2019 in der «Handelszeitung» erschienen.