Das schweizerische System der Altersvorsorge ist reformierbar, wenn die Versicherten als mündige und eigenverantwortliche Bürger behandelt werden. Diesem Postulat sollten auch die Bestimmungen über die Anlage der Vorsorgegelder Rechnung tragen.
Das ist heute nur sehr eingeschränkt der Fall. Die meisten Vorsorgeeinrichtungen verwenden eine identische Asset Allocation für alle ihre Versicherten. Je grösser der Kreis der Destinatäre, desto weniger kann der Stiftungsrat die individuellen Verhältnisse seiner Versicherten berücksichtigen. Die Bedingungen für eine individualisierte Anlagestrategie sind streng. Sie ist nur für Löhne über 125’280 Fr. möglich und kann nur von Vorsorgeeinrichtungen angeboten werden, die ausschliesslich die Lohnanteile oberhalb dieses Grenzbetrags versichern. Damit ist 98 Prozent der Destinatäre die Möglichkeit verwehrt, ihre Anlagestrategie aufgrund ihrer persönlichen Risikofähigkeit, Risikoneigung und des für sie relevanten Anlagehorizonts selber zu bestimmen. Das steht im Widerspruch zum gesellschaftlichen Trend der Individualisierung und zu liberalen Grundsätzen.
In unserem Buch «Verjüngungskur für die Altersvorsorge – Vorschläge zur Reform der zweiten Säule» regen wir deshalb an, die Schwelle für die individualisierte Anlagestrategie auf den Maximalbetrag des BVG-Obligatoriums von 83’520 Fr. zu senken, die freie Wahl der Anlagestrategie also auf das ganze Überobligatorium auszuweiten. Mit diesem Schritt kämen immerhin 40% der Bevölkerung in den Genuss grösserer Entscheidungsfreiheit. Die Beschränkung auf das überobligatorische BVG-Vermögen stellt sicher, dass allfällige Fehlinvestitionsentscheide nicht sozialisiert werden könnten. Die Leistungen aus dem BVG-Obligatorium und der AHV würden nämlich eine Abhängigkeit von der Sozialhilfe verhindern.
Selbstverständlich wäre die freie Wahl kein Zwang. Wer seine Anlagestrategie nicht selber definieren will, muss die Möglichkeit haben, sich für eine «Default-Strategie» zu entscheiden – also eine Strategie mit ausgewogenem Risiko, wie sie heute von den meisten Vorsorgeeinrichtungen verfolgt wird. Für solche Destinatäre ändert der Reformvorschlag nichts.
Das Bedürfnis nach einer eigenen Anlagestrategie besteht durchaus. Bei Pensionskassen, die diese Möglichkeit anbieten, entschieden sich 42% der Versicherten dafür. In den Ländern, die die freie Wahl der Anlagestrategie kennen und die Anzahl möglicher Strategien einschränken, stösst das Konzept auf Akzeptanz. Auch wenn nur eine Minderheit die freie Wahl wünschen sollte, wäre dies kein Grund, diese Option nicht anzubieten. In der Schweiz finden häufig Abstimmungen mit einer Stimmbeteiligung unter 40% statt. Trotzdem käme niemand auf die Idee, deswegen die direkte Demokratie abzuschaffen.
Die Behauptung, nur die wenigsten Versicherten würden genügend Finanzexpertise besitzen, um informierte Anlageentscheide zu treffen, tönt sehr paternalistisch. Die Bürger treffen heute zahlreiche Entscheide von grösserer finanzieller Tragweite. Wichtig ist allerdings, dass die Versicherten nicht mit tausend Anlageprodukten konfrontiert und überfordert werden. Deshalb schlagen wir vor, die Wahlmöglichkeiten auf die Festlegung einer Anlagestrategie zu begrenzen, zum Beispiel durch die Vorgabe einer Aktienquote, den Verzicht auf einzelne Anlageklassen oder den Fokus auf nachhaltige Investitionen. Durch die Fokussierung auf vier bis fünf Anlagestrategien können Skaleneffekte erzielt und die Vorsorgegelder zu den für institutionelle Anleger günstigeren Konditionen platziert werden.
Der gewonnene Gestaltungsspielraum impliziert mehr Verantwortung für die Versicherten. Wer Entscheide frei fällt, muss auch allfällige negative Konsequenzen tragen. In diesem Zusammenhang drängt sich die Revision des Freizügigkeitsgesetzes auf. Unter den heute geltenden Bestimmungen profitieren Versicherte, die eine riskante Anlagestrategie wählen, bei positiver Börsenentwicklung von einer überdurchschnittlichen Rendite, tragen beim Austritt aus der Vorsorgeeinrichtung aber nicht vollumfänglich die Konsequenzen. Der entstandene Verlust muss von der Vorsorgeeinrichtung und letztlich von den verbleibenden Versicherten getragen werden. Diese Risikoasymmetrie ist stossend und mit einer liberalen Grundhaltung nicht vereinbar. Deshalb ist die Realisierung der Motion Stahl, die die Kollektivierung der Risiken bei gleichzeitiger Individualisierung der Gewinne vermeiden will, Bestandteil unseres Reformvorschlags.
Weitere Artikel aus dieser Reihe:
- Die Altersvorsorge muss sich der Gesellschaft anpassen
- Die Vorsorge an den Mitarbeiter statt an den Arbeitsplatz koppeln
- Den Umwandlungssatz entpolitisieren
- Grösserer finanzieller Spielraum dank flexiblerem Vorsorgesparen
Mehr Informationen zum Thema finden Sie in dem soeben erschienenen Buch «Verjüngungskur für die Altersvorsorge».