Das linke Narrativ, wonach der Mittelstand ausgepresst werde und die Ungleichheit zunehme, verfängt immer noch. Daraus werden Forderungen nach noch mehr Umverteilung und Staatsintervention abgeleitet, obwohl die Fiskalquote hierzulande bereits nahe an der 45-Prozent-Marke liegt. Zahlen und Daten zeigen jedoch ein komplett anderes Bild. Global hat die Ungleichheit drastisch abgenommen. Der Gini-Koeffizient als Mass zur Messung der Ungleichheit fiel seit dem Jahr 2000 um 15 Punkte. Noch 1990 lebten 44 Prozent der Weltbevölkerung in extremer Armut – heute sind es weniger als 10 Prozent. Die Kindersterblichkeit hat abgenommen, die Lebenserwartung ist gestiegen.

Der Klage vom (angeblichen) Wohlstandsverlust des Mittelstands ist die Entwicklung der Kaufkraft gegenüberzustellen: Diese hat sich in den letzten hundert Jahren deutlich erhöht. In der Nachkriegsperiode betrug der Anteil der Nahrungsmittel an den individuellen Haushaltsausgaben noch rund 30 Prozent, heute sind es 8 Prozent. Die Kaufkraft des Medianeinkommens in der Schweiz stieg zwischen 1989 und 2014 um 15 Prozent. Ausgeblendet wird bei der Umverteilungsdiskussion ausserdem, dass wir dank dem technologischen Fortschritt heute mehr zum gleichen Preis erhalten. Das Mittelklasseauto aus dem Jahre 1990 war im sprichwörtlichen Sinn höchstens Mittelklasse, ABS und Airbags noch nicht serienreif, der «Fahrkomfort» unkomfortabel. Heute verfügt ein sogenanntes Mitteklasseauto über elektronische Assistenzsysteme und Gadgets, dazu ausgereifte Sicherheitskomponenten und eine annähernd verdoppelte PS-Leistung.

All dies findet inzwischen Platz auf einem Smartphone. (Tracy Thomas, unsplash)

Die Liste lässt sich beliebig fortsetzen: Die miefige Mittelstands-Küche der 1990er Jahre hat mit den Kochwelten von 2019 wenig gemein: Geschirrspüler, Dunstabzugshauben und Glaskeramik-Kochfelder sind heute Standard. Schummrige Röhrenfernseher sind ausladenden UHD-Flatscreens gewichen. Wer heute monatlich 12.50 Franken für den unbegrenzten Musik-Stream auf Spotify bezahlt, kann sich kaum mehr vorstellen, dass früher jedes einzelne Album seiner Lieblingsband mit bis zu 30 Franken zu Buche schlug. Das Smartphone gehört mittlerweile zur individuellen Standardausrüstung. Auch ohne Anstieg der Kaufkraft kann man sich heute mehr leisten als vor 30 Jahren.

Zum technischen Fortschritt wesentlich beigetragen hat die internationale Arbeitsteilung. Das Mehr zum gleichen Preis basiert vorab auf dem ungehinderten Austausch von Waren und Dienstleistungen, Kapital, Menschen und Ideen. Ziel müsste also eigentlich sein, diesen Wohlstandkuchen durch Globalisierung und Technologisierung noch grösser zu machen, damit alle davon mehr erhalten, und nicht einen gleich gross bleibenden Kuchen auf immer mehr Anspruchsgruppen (um-) zu verteilen. Das Mehr zum gleichen Preis, von dem insbesondere der Mittelstand profitiert, verlangt ein Mehr an Offenheit und nicht weniger.

Dieser Beitrag ist erstmals in der «Handelszeitung» vom 25. 7. 2019 erschienen.