Die äussere Sicherheit gehört zu den Aufgaben eines liberalen Staates. «Denn ohne Sicherheit ist keine Freiheit», wird Wilhelm von Humboldt gerne zitiert. Sicherheit ist unabdingbar, damit Bürgerinnen und Bürger ihr Leben selbstbestimmt führen und gestalten können. Laut Art. 58 BV ist die Armee grundsätzlich für die Verteidigung des Landes gegen Angriffe von aussen verantwortlich. Sie unterstützt die zivilen Behörden ausserdem bei schwerwiegenden Bedrohungen der inneren Sicherheit und bei der Bewältigung anderer ausserordentlicher Lagen. Somit trägt sie entscheidend zur Ermöglichung liberaler Inspirationen der Bürger bei.
Tief verwurzelte Wehrpflicht
Die Armee findet eine hohe Zustimmung in der Bevölkerung. Die Studie «Sicherheit 2018» der Militärakademie (Milak) an der ETH Zürich zeigt: 81% der Befragten erachten die Armee als notwendig. Sogar bei der jüngeren Altersgruppe der Wehrpflichtigen (18-29-Jährige), die traditionell militärkritischer eingestellt ist als die ältere Generation, halten 79% die Armee für notwendig (ein Plus von 10% im Vergleich zu 2017). Auch die allgemeine Wehrpflicht als unverrückbarer Pfeiler der Milizarmee (vgl. Art. 58 und 59 BV) stösst auf eine hohe Zustimmung beim Schweizer Volk, wie die Ablehnung der GSoA-Initiative «Ja zur Aufhebung der Wehrpflicht» 2013 mit 73% eindrücklich gezeigt hat. Die Zufriedenheit mit der Leistung der Armee ist dennoch laut dem Bericht mit 6,3 auf einer Skala von 1 bis 10 nicht überragend.
Die Veränderung des geopolitischen Gleichgewichts auf dem Kontinent hat zu einer Anpassung der Einsatzdoktrin an die neue Bedrohungslage geführt. Aufgrund dessen benötigt die Armee heute weniger Personal als zuvor (vgl. Grafik).
Die Reduktion des Armeebestandes trotz allgemeiner Dienstpflicht wurde durch die Senkung des Wehrpflicht-Höchstalters auf 34 Jahre sowie durch eine Beschränkung auf 245 Diensttage umgesetzt. Ausserdem wurde die Diensttauglichkeit permissiver ausgelegt und der Übertritt zum Zivildienst erleichtert: Nur gerade 66,3% der potenziellen Rekruten wurden 2016 für militär- oder zivildiensttauglich erklärt. In den Militärdienst eingezogen wird heute nur noch jeder vierte Jugendliche. In der 2016er-Kohorte der 94’875 Zwanzigjährigen, die zur ständigen Wohnbevölkerung der Schweiz zählen, wären grundsätzlich 40% (bzw. 37’782 Männer mit Schweizer Pass) von der Wehrpflicht erfasst. Bezogen auf alle Zwanzigjährigen, inklusive Frauen und niedergelassene Ausländer, entspricht dies einem Anteil von 26%.
Trotz der Senkung ihres Bestandes ist die Armee mit verschiedenen Problemen der Personalbewirtschaftung konfrontiert. So hat sie zunehmend Mühe, genügend Kader zu rekrutieren, und verzeichnet immer mehr Gesuche für den Zivildienst. Seit die Gewissensprüfung 2009 durch den Tatbeweis ersetzt wurde, erreicht die Zahl der Zulassungen zum Zivildienst pro Jahr im Durchschnitt 5925, Tendenz steigend. 40,4% der zum Zivildienst Zugelassenen, 2017 insgesamt 2738 Personen, reichten ihr Gesuch erst nach Beendigung der Rekrutenschule ein. Die Armee verliert somit Soldaten, die sie ausgebildet, ausgerüstet und für eine bestimmte Funktion vorgesehen hat. Dies läuft der Einsatzdoktrin entgegen und könnte auf Dauer die Landessicherheit gefährden.
Über die Gründe dieser Abgänge wird wild spekuliert. Den Jungen wird oft moralische Schwäche angelastet, der Zivildienst als zu attraktiv taxiert und als Risiko für die Bestandessicherung der Armee wahrgenommen. Tatsache ist: Die individuellere Lebensgestaltung, der erhöhte berufliche Druck und die Lösung traditioneller Bindungen belasten das Milizsystem. Immer weniger Bürger sind in der Lage, sich zu engagieren – nicht nur in der Armee, sondern beispielsweise auch in der Kommunalpolitik.
Verschärfter Wettbewerb um Arbeitskräfte
Mit der Globalisierung hat der Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt zugenommen, besonders im Segment der höheren Qualifikationen. In der internationalisierten Wirtschaftstätigkeit hat die Wehrpflicht nicht mehr den gleichen Stellenwert. Ein Beispiel, das in Genfer Militärkreisen für Empörung sorgte, war die Stellenausschreibung eines Unternehmens, das die Bewerbung noch wehrpflichtiger Männer ausdrücklich ausschloss. Aus Sicht eines Unternehmens, das in der Schweiz mit relativ hohen Arbeitskosten konfrontiert ist, kann es durchaus attraktiv sein, sich Kandidaten zuzuwenden, die nicht (oder nicht mehr) dienstpflichtig sind; vor allem, wenn man in Betracht zieht, dass mehr als 60% gar nicht von der Wehrpflicht erfasst werden.
Daraus folgt, dass manche Einberufene – zumeist junge Männer – auf dem Arbeitsmarkt gegenüber all jenen mit Nachteilen rechnen müssen, die keinen Dienst leisten. Neben den Wehrpflichtbefreiten sind das Frauen und ausländische Staatsangehörige. Die Neigung der jüngeren Männer, sich vom Militärdienst abzuwenden, wird dadurch verstärkt. Zudem scheint sich die individuelle Haltung gegenüber der Armee verändert zu haben. Für Viele weist das Militär nicht mehr den gleichen Stellenwert auf wie einst. Und schliesslich gibt es nur noch wenige Anreize, sich aus Karrieregründen zu engagieren, nachdem in der Armee erworbene Fähigkeiten und das dazugehörige Beziehungsnetz im Curriculum kaum mehr als relevante Faktoren angesehen werden – trotz Anstrengungen der Armeeführung für die Anerkennung der Armeekaderausbildung in Form von ETCS Kredite an Universitäten.
Über neue Modelle nachdenken
Oft wird dem Zivildienst implizit unlauterer Wettbewerb gegenüber der Armee vorgeworfen. Für die «nachhaltige Sicherung der Alimentierung der Armee» hat der Bundesrat im Juni eine Vernehmlassung zur Änderung des Zivildienstgesetzes eröffnet, damit weniger Junge zum Zivildienst zugelassen werden. Zielführender wäre es, über eine grundlegende Reform der Wehrpflicht nachzudenken, statt das Problem allein bei der vermeintlich «überhöhten Attraktivität» des heutigen Zivildiensts zu suchen. Gefragt ist eine Reform, die sich stärker an den Bedürfnissen einer modernen Gesellschaft orientiert.
Ein Bürgerdienstmodell wie von Avenir Suisse skizziert, das alle Bürgerinnen und Bürger einbezieht sowie Militär- und Zivildienst als gleichwertige Formen der Pflichterfüllung vorsieht, könnte Grabenkämpfe beseitigen, gleich lange Spiesse für alle schaffen und die Armeebestände langfristig sichern.
Bei einer Verdoppelung des Rekrutierungspools könnte die Armee besser selektionieren, die Profile schärfen, und die spezifischen Qualifikationen des Personals würden an Bedeutung gewinnen – unabhängig von Alter und Geschlecht. Dank der freien Wahl der Diensttätigkeit, wobei der Militärdienst, strikt Schweizer Bürgerinnen und Bürgern vorbehalten bliebe, würde die militärische Wirksamkeit des Einsatzes verbessert, da sich primär Top-Motivierte für den Militärdienst bewerben würden. In einer solchen Leistungskultur könnten sie schneller und besser ausgebildet werden, und es bräuchte weniger Disziplinrituale.
Der Freiwilligkeitsaspekt und die Konkurrenz zu anderen Dienstarten sollten die militärischen und politischen Entscheidungsträger dazu führen, den Armeealltag effizienter zu gestalten. Je grösser die immaterielle dienstbezogene Befriedigung ist, desto leichter ist es, Personal anzuziehen. Der Militärdienst ist unter vielen Aspekten heute bereits attraktiv und würde bei einer Verdoppelung des Rekrutierungspools sicher genug gute Leute anziehen, um einen Bestand von 100‘000 zu erreichen und die Sicherheit des Landes zu gewährleisten. Die Frage nach der Attraktivität der Armee würde sich dann nicht mehr so stellen wie heute.
Dieser Beitrag ist Teil der Publikationsreihe «Miliz heute».