Der Dominoeffekt gehe nicht weiter, meinten die hochkarätigen Experten an der Herbsttagung von Avenir Suisse zum «Arab Spring». Die Alleinherrscher würden nicht mehr so fallen wie jene in Tunesien, Ägypten und Libyen – aber gleichwohl könne kein Staat langfristig dem Umbruch entgehen. Diesen erlebe jedes Land auf seine eigene Art, meinte Christian Koch vom Gulf Research Center. Gemeinsam sei allen Ländern nur, dass sie einen «sehr holprigen Weg» gehen müssten: Auf den Frühling im arabischen Raum dürfte deshalb vorerst ein langer Winter folgen.

Naguib Sawiris

Gute Chancen, den Umbruch zu bewältigen, gaben die Fachleute nur Tunesien. Das Land hat eine säkulare Gesellschaft, in der die Frauen eine starke Stellung geniessen. Und vor allem lebt es fast ausschliesslich vom Tourismus. Deshalb wähle niemand Islamisten, die den Alkohol verbieten, Bars schliessen und Badestrände sperren würden. Und eine kleine Chance, sich ohne die Umwälzungen eines arabischen Frühlings in Richtung Freiheit zu bewegen, sahen die Experten für Marokko. Allerdings könne der König, der sich für eine Liberalisierung offen zeige, nicht gleichzeitig regieren und alle wichtigen Unternehmen mitbesitzen: Er müsse die liberalen, säkularen Parteien stärken und damit für mehr Demokratie und Marktwirtschaft sorgen.

Dagegen bezeichnete der ägyptische Unternehmer Naguib Sawiris Algerien aus eigener Erfahrung als «korruptestes Regime in der ganzen arabischen Welt» – ein Urteil, das er ausdrücklich veröffentlicht sehen wollte. Da der Staat die Wirtschaft durchdringe, herrsche Korruption von den Spitzen der Regierung bis zur Masse der Armee. Das Land habe bisher nur keinen Aufstand erlebt, weil seit den Massakern in den 1990-er Jahren der Sicherheitsapparat massiv aufrüste und das Volk in Schrecken erstarre.

Libyen ist eine Zeitbombe

«Jeder Herrscher, der sein Volk niedermetzeln lässt, unterschreibt mit dessen Blut sein eigenes Todesurteil», hielt Sawiris fest. Allerdings stellt sich in mehreren Ländern die Frage, welche Regierung auf einen Gewaltherrscher folgen wird. Libyen sahen die Experten als «grosses Chaos» oder gar als Zeitbombe: Da die Regierung nichts durchsetzen könne und jegliche Ordnungsmacht fehle, drohe der Staat zu scheitern, sich also zum nächsten Somalia oder Afghanistan zu entwickeln.

Eine ähnliche Situation entstünde in Syrien nach dem Fall von Präsident Bashar Al-Assad. Zwar standen seine Gegner anfangs geschlossen gegen ihn auf, inzwischen kämpfen die verschiedenen Minderheiten aber auch gegeneinander. Verheerend wirkt sich vor allem der Einfluss von islamistischen TV-Sendern in Saudiarabien und in Ägypten aus, die Schiiten und Sunniten gegeneinander und gegen die christlichen Minderheiten aufhetzen. «Das muss aufhören», betonte Ribal Al-Assad von der in London beheimateten «Organisation for Democracy and Freedom in Syria»: «Wir wollen keine Diktatur – aber auch keine Theokratie.»

Islamisten kapern die Volksbewegung

In Ägypten fehle die Rechtssicherheit ebenfalls, stellten die Experten fest: Auch hier seien die Islamisten im letzten Moment auf die Volksbewegung aufgesprungen und hätten sie gekapert. Sie bekämen viel Geld aus Katar und aus Saudiarabien und verschreckten mit ihren Attacken gegen Israel die westlichen Investoren. Nur eine starke Regierung könnte das Vertrauen wiedergewinnen – ein Wahlsieg der islamischen Parteien lasse sich aber kaum verhindern, wobei allerdings von verschiedensten Seiten betont wurde, dass islamisch und islamistisch nicht das Gleiche sei.

Die Auseinandersetzung der islamischen Glaubensrichtungen prägt den Konflikt in Bahrein: Die Herrscherfamilie stützt sich auf die Sunniten und unterdrückt die schiitische Mehrheit. Diese Repression lasse sich nicht durchhalten, stellte Christian Koch als Kenner der Golfstaaten fest, das Land müsse seine Einheit wiederherstellen. In den anderen Staaten am Golf, vor allem in den Vereinigten Arabischen Emiraten, würde die Bevölkerung zwar mit einem Umbruch viel aufs Spiel setzen; auch hier gelte aber der Vertrag nicht mehr bedingungslos, dass das Volk für sein Wohlergehen auf alle Mitspracherechte verzichte. Nur in Saudiarabien sah Koch in den nächsten Jahren «nahezu null Chancen für einen Umbruch» – aber auch nur so lange, wie sich die Bevölkerung mit den sprudelnden Erdöleinnahmen ruhig stellen lasse.