Wortklauberei im Bundesrat: Letzte Woche verkündete die Landesregierung im Pandemiejahr Zwei den Übergang in die Normalisierungsphase.

Von Normalisierung allerdings keine Spur: Individuelle Freiheitseinschränkungen sind nach wie vor in Kraft. Wer mit der Familie dieser Tage den 90. Geburtstag der Grossmutter zu feiern gedenkt, muss pingelig darauf achten, dass die feiernde Verwandtschaft die vorgeschriebene Zahl nicht überschreitet. Die Jubilarin mitgezählt, hält Bundesbern an der Limite von 30 Personen für private Treffen und Feste im Freundes- und Familienkreis fest.

Das Maskenobligatorium gilt weiterhin im öffentlichen Verkehr, genauso wie für das Verkaufspersonal und die Kundschaft in den Läden – zum Leidwesen von Zehntausenden von Detailhandelsangestellten und mit wachsendem Unverständnis der geimpften Kunden.

Ein Graffiti-Künstler fordert Freiheit von Covid-19-Massnahmen. (Adam Niescioruk)

Der Staatsdirigismus unter dem Vorwand der Pandemiebekämpfung bleibt allgegenwärtig, die bürokratische Gestaltungsfreude der Politiker ungebrochen. Es bestätigt sich das Bonmot von Robert Reich, Politikwissenschafter und ehemaliger Arbeitsminister in der Clinton-Administration, wonach das Ergreifen politischer Massnahmen einfacher ist, als politische Machtstrukturen wieder abzubauen.

Wenn der Bundesrat gegenüber der Öffentlichkeit erklärt, er gebe dem Volk die Freiheit sukzessive zurück, dann ist entgegenzuhalten, dass die Freiheit keine abstrakte administrative Grösse ist, über deren Ausmass die Behörden nach Belieben verfügen können, sondern sie gehört in unserer liberalen Gesellschaftsordnung zur Grundausstattung – unzweideutig!

Trotz weitgehenden Fortschritten in der Virenbekämpfung: Oberste helvetische Präventionsdoktrin bleibt die Vollkasko-Kultur. Zwar haben mittlerweile fast alle Impfwilligen ihren Piks erhalten und damit ihr Risiko der Covid-19-Erkrankung mit schwerwiegenden Krankheitsverläufen auf ein Minimum reduziert; obwohl Neuinfektionen wieder zunehmen, verharren die Todesfälle auf niedrigem Niveau.

Dennoch werden die flächendeckenden Freiheitsbeschränkungen nicht aufgehoben. Zu deren Rechtfertigung passt der Bund seine Argumentation laufend an. Ging es anfangs der Pandemie darum, die Überlastung der Spitäler zu vermeiden und besonders vulnerable Personen zu schützen, dienten später zur Begründung der anhaltenden Restriktionen die neuen Virusvarianten. Heute gelten als Drohkulisse Ferienrückkehrer und Impfverweigerer. Damit erlaubt man mit govermentalem Segen, dass die gesamte Bevölkerung von den Impfgegnern in Geiselhaft genommen wird.

Der Rückgewinn der Freiheiten und die Aufhebung aller Restriktionen scheint eine liberale Herkulesaufgabe zu sein, ist aber dringend nötig. Die Null-Risiko-Mentalität des Bundes blendet mit stupender Ignoranz aus, dass die Pandemie mit ihren immer neu auftauchenden Varianten Teil unserer Lebensrisiken bleiben wird. Virenmutationen dürfen aber nicht zum Anlass genommen werden, die Rückkehr zum Normalzustand auf ewig zu vertagen. Die Ausrufung der Normalisierungsphase muss unmittelbar mit dem Rückgewinn von Freiheit einhergehen.

Dieser Kommentar basiert auf einem Beitrag, der am 19. August 2021 in der «Handelszeitung» erschienen ist.