Trotz seiner lieblichen Landschaft verfügt der Arc lémanique über eine beeindruckende demografische und wirtschaftliche Dynamik. Die Bevölkerung der Region hat sich seit 1900 mehr als verdreifacht und belief sich im Jahr 2017 auf nahezu 1,3 Millionen Einwohner – 793’000 im Kanton Waadt und 495’000 im Kanton Genf. Im schweizerischen Vergleich entwickelte sich die Bevölkerung in der Region im Verlauf der letzten zwanzig Jahre besonders stark. Die jährliche Wachstumsrate lag in Genf ca. 25%, in der Waadt ca. 50% über dem schweizerischen Durchschnitt.

Bedeutung des Dienstleistungssektors

Ebenfalls stark verändert haben sich die Wirtschaftssektoren, in denen die Bevölkerung tätig ist – in den beiden Kantonen allerdings auf unterschiedliche Weise. Im Jahr 1860 war ungefähr jeder zweite Waadtländer Arbeiter im Primärsektor beschäftigt, das heisst in der Landwirtschaft und im Weinbau. Heute prägen Start-ups und Dienstleistungsunternehmen die kantonale Wirtschaft. Im Jahr 2018 waren 17% der Berufstätigen im Sekundär- und 80% im Tertiärsektor beschäftigt. Der Kanton Genf verfügte hingegen schon sehr früh über einen starken Dienstleistungssektor. Bereits 1860 fanden sich 43% der Berufstätigen in Genf in diesem Sektor, und heute sind es 86% (CH: 78%).

Diese wirtschaftliche Entwicklung wirkte sich auf die regionale Wertschöpfung aus. So wuchs das BIP der beiden Kantone zwischen 2008 und 2016 um 12 Mrd. Fr. und beträgt heute in Genf 48 Mrd. Fr. und in Waadt 56 Mrd. Fr. Die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate im Kanton Waadt ist seit 2008 deutlich höher als die Wachstumsrate der Schweiz und der Eurozone (vgl. Abbildung). Die Wachstumsrate des Kantons Genf liegt mit 0,3% pro Jahr im selben Zeitraum deutlich tiefer.

Obwohl der Kanton Genf langsamer wächst als der Kanton Waadt, liegt 2016 seine Produktivität gemessen am BIP pro Einwohner deutlich höher. Sie überflügelt die des Nachbarkantons um 36%. In Anbetracht der vielen Grenzgänger in Genf (ca. ein Drittel der Arbeitstätigen im Kanton) und des Stroms von Arbeitskräften zwischen den beiden Kantonen ist ein Vergleich des BIP nach Vollzeitstellen aussagekräftiger. Die Unterschiede nehmen ab, und die Produktivität der beiden Kantone nähert sich dem schweizerischen Durchschnitt an (VD: 160’000 Fr., GE: 167’000 Fr. und CH: 165’000 Fr.). Die Produktivität in Waadt und Genf liegt allerdings einiges  unter derjenigen der Kantone mit einer starken Exportindustrie wie Neuenburg, Zug und Basel-Stadt (NE: 182’000 Fr., ZG: 217’000  Fr. und BS: 220’000 Fr.).

Heimat vieler Start-ups

Hinter den abstrakten BIP-Ziffern versteckt sich eine hinsichtlich der Unternehmensgrösse und ihren Tätigkeitsgebieten höchst differenzierte Wirtschaftslandschaft. Das internationale  Genf ist Sitz zahlreicher im Sekundärsektor tätiger multinationaler Konzerne wie Firmenich, Givaudan, Procter & Gamble und Rolex. Aber auch der Dienstleistungssektor ist aufgrund international tätiger Privatbanken und Handelsgesellschaften wichtig. Notabene ein Drittel des weltweiten Erdölhandels erfolgt von Genf aus. Mit Nestlé, Ferring, Merck (ex Serono), Kudelski, Bobst oder Tetra Pak verfügt auch der Kanton Waadt über zahlreiche Aushängeschilder in Industrie und Forschung.

Diese grossen Gesellschaften sind eingebunden in ein Netz kleiner und mittlerer Unternehmen. So arbeiten in der Waadt sechs von zehn Angestellten und nahezu drei Viertel der Angestellten im Kanton Genf für kleine Unternehmen mit weniger als fünfzig Mitarbeitenden.

Die Erneuerungskraft der Unternehmen ist ebenfalls bemerkenswert. So liegt die Zahl neu gegründeter Unternehmen – gemessen pro tausend Vollzeitstellen – nahe, ja sogar über dem schweizerischen Durchschnitt. Die Hälfte der Venture-Capital-Investitionen in der Schweiz wird in der Region getätigt. Ein Viertel der Investitionen konzentriert sich im Raum Zürich, der Rest verteilt sich auf die übrige Schweiz. Infolge der wirtschaftlichen Erneuerung im Arc lémanique ist die Arbeitslosigkeit, die Mitte der 1990er Jahre noch bei über 7,5% lag, stark zurückgegangen. Im Dezember 2018 lag sie «nur noch» bei 4,4% im Kanton Genf und bei 3,9% in der Waadt. Der letztere Wert berücksichtigt beim RAV gemeldete Arbeitslose nach Ende der Bezugsdauer. Diese Waadtländer Besonderheit hat zur Folge, dass die Arbeitslosenquote um ca. 0,7 Prozentpunkte höher liegt als anderswo. Trotz Korrektur bleibt die strukturelle Arbeitslosigkeit im Arc lémanique im Vergleich zum schweizerischen Durchschnitt (2,7%) hoch.

Gebe, und du wirst bekommen

Dank der hohen Lebensqualität sowie der guten nationalen und internationalen Verkehrsanbindung durch den Flughafen Genf sowie die Eisenbahn- und Strasseninfrastruktur zieht die Region viele steuerzahlende natürliche und juristische Personen an. Daraus resultiert ein hohes Steuerpotenzial. So ist der Kanton Genf im nationalen Finanzausgleich drittgrösster Nettozahler: Mit 628 Fr. pro Einwohner liegt er vor dem Kanton Zürich (336 Fr.), bezahlt aber weniger als einen Viertel des Betrages pro Einwohner im Kanton Zug. Die Waadt gehörte lange auch zu den Nettozahlern, bis der Kanton letztes Jahr die Seite wechselte und im Jahr 2019 nun 86 Fr. pro Einwohner erhält.

Unterschiedlicher Umgang mit der Verschuldung

Auch wenn sich das Steuerpotenzial zwischen Genf und Waadt unterscheidet, ist die effektive Abschöpfung durch den Staat vergleichbar und in ihrem Umfang beträchtlich. Nirgendwo in der Schweiz erreicht die Steuerbelastung die in den Kantonen Genf und Wallis vorherrschenden 34% und 33%. Wenn die Kantone stark besteuern, geben sie auch viel aus. Ihr Anteil beträgt 19% des kantonalen BIP und liegt damit doppelt so hoch wie in den Kantonen Zürich und Zug. Entsprechend stark ausgebaut ist der Staatsapparat. So liegt die Zahl der Staatsangestellten im Verhältnis zur Gesamtzahl der Erwerbstätigen im Kanton Genf besonders hoch, was in einem geringeren Umfang auch für den Kanton Waadt gilt. Im schweizerischen Quervergleich hat nur Uri einen noch stärker ausgebauten Staatsapparat.

Trotz vergleichbarer Steuerpolitik unterscheidet sich das Schuldenmanagement entlang des Sees grundsätzlich. Der Kanton Waadt, bis Mitte der 2000er Jahre stark verschuldet, wusste sich zu erholen. Heute liegt die Belastung pro Einwohner unter dem schweizerischen Durchschnitt. Die Situation in Genf könnte anders nicht sein. 2016 waren der Kanton und seine Gemeinden mit 37’000 Fr. pro Einwohner schweizweit am höchsten verschuldet. In Basel-Stadt, dem am zweitstärksten belasteten Kanton, liegen die Verbindlichkeiten pro Einwohner 10’000 Fr. tiefer.

Zu dieser realen Verschuldung kommt eine implizite hinzu. Die Pensionskassen der beiden Kantone werden im Teilkapitalisierungsmodell finanziert. Dies bedeutet konkret, dass ihre Aktiven im Jahr 2017 nur ausreichten, um 61% bzw. 73% der laufenden und versprochenen Renten zu finanzieren. Da die Deckung durch den Staat garantiert ist, ergibt sich daraus implizit eine Hypothek für die künftigen Generationen.

Insgesamt zeichnet sich die Region also durch eine starke Dynamik und eine gesunde, diversifizierte Wirtschaft aus. Das Image einer Region als nationales Schlusslicht, wie es für die 1990er Jahre zutraf, muss klar revidiert werden. Hinsichtlich der hohen Arbeitslosenzahl, einer durchschnittlichen Produktivität und einer hohen Fiskalquote bleiben allerdings zahlreiche Herausforderungen, die noch zu bewältigen sind.

Dieser Beitrag wurde erstmals in der Publikation «Einzigartige Dynamik des Arc lémanique» publiziert.