Die schleichende Erosion der Beziehungen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union konnte seit dem letzten Avenir-Suisse-Erosionsmonitor vom Juni 2022 nicht gebremst werden – im Gegenteil. Was mit der Aufkündigung der Börsenäquivalenz durch die EU im Jahr 2019 begann, setzt sich seither für viele weitere Branchen fort. Jüngstes Beispiel sind geänderte Prozesse für die Zertifizierung neuer Bahnwaggons. Nach der Medizin­technik- und Diagnostika-Branche folgen als nächstes zuerst die Maschinen- sowie später die Pharma­industrie; aufgrund der hohen Bedeutung dieser beiden Branchen für den Industrie­standort Schweiz dürften die betriebs­wirt­schaft­lichen Anpassungskosten die Milliardenschwelle übersteigen.

Dass die Schweizer Industrie die zusätzlichen Marktzutrittshürden bisher mit nur geringem Schaden gemeistert hat, ist der vorausschauenden Unternehmensführung vieler exportorientierten Firmen zu verdanken. Sie bereiteten sich auf das Erosionsszenario vor und suchten Auswege, um ihre Kunden im EU-Binnenmarkt auch weiterhin effizient beliefern zu können. Die Positionierung vieler exportorientierter Unternehmen in höher­margigen Segmenten hilft, die gestiegenen Marktzugangskosten abzufedern. Kommt hinzu, dass die höhere Inflation im Euroraum die hiesigen Hersteller begünstigt.

Diversifikation mindert die Auswirkungen der Erosion

Hinsichtlich der Warenexporte sind sowohl die Westschweiz als auch das Tessin im Vergleich zur gesamten Schweiz stärker diversifiziert. Ausnahmen bilden Genf und Neuenburg, die jeweils auf die Uhren- bzw. Pharmaindustrie spezialisiert sind. Diese Bereiche sind von Export­restriktionen jedoch bisher wenig betroffen. Anders sieht es im Maschinen- und Elektrobereich aus. Hier ist die Erosion bereits absehbar: Mit der Umsetzung der neuen Maschinen­richtlinie der EU werden Unternehmen schon bald neue Exporthürden überwinden müssen. Betroffen davon sind vor allem das Tessin und der Jura, wo Maschinen­exporte jeweils 22% und 30% der Gesamt­exporte ausmachen.

Die stärkere Diversifikation der Exporte der lateinischen Kantone mindert die Auswirkungen der Erosion. Dies bedeutet allerdings keine generelle Entwarnung für die stark exportorientierte Schweiz insgesamt. So war die Westschweiz 2021 mit einem Volumen von rund 71 Mrd. Fr. nur für etwa einen Viertel (27,6%) der Warenexporte (ohne Gold/Metalle) der Schweiz (insgesamt 256 Mrd. Fr.) verantwortlich.

Die Erkenntnisse aus der Analyse der Westschweiz und des Tessins sind exemplarisch: Wirtschaftspolitisch erzeugt der schleichende Prozess der Erosion zu wenig Druck, um beherzt das Ruder in Richtung Zusammenarbeit mit der EU herumzureissen. Mit dem Haupt­absatz­markt EU ist es für ein Schweizer Unternehmen oft attraktiver, zusätzliche Produktionskapazitäten direkt im Binnenmarkt aufzubauen. In der Summe schwächt dies nicht nur das Wachstums­potenzial des Wirtschafts­standortes Schweiz, sondern damit auch den Wohlstand.

Weitere Ausgaben des Avenir-Suisse-Erosionsmonitors:

Erosionsmonitor #1: Report zum Stand des bilateralen Verhältnisses Schweiz–EU
Erosionsmonitor #2: Report zum Stand des bilateralen Verhältnisses Schweiz–EU: Schwerpunkt Bildung und Forschung
Erosionsmonitor #3: Report zum Stand des bilateralen Verhältnisses Schweiz–EU: Schwerpunkt Nordwestschweiz

Weitere Beiträge zum Thema «Beziehungen Schweiz–EU» finden Sie im Dossier «Europa und die Schweiz».