Allenthalben wurde in den Leitartikeln der führenden Schweizer Medien zum Jahresrückblick 2017 das politisch Nicht-Erreichte kritisch kommentiert. Von einem verkorksten Politjahr war die Rede, und man fragte rhetorisch, ob die Schweiz im Reformstau feststecke. Tatsache ist, dass grosse Reformvorhaben an der Urne kein Plazet der Stimmbürger erhielten.
Steuersenkungen in verschiedenen Ländern
Beispiel Steuerreform: In der Schweiz fand die Unternehmenssteuerreform III im Februar 2017 keine Mehrheit an der Urne. Doch mittlerweile senken zahlreiche Staaten die Steuerbelastung für Unternehmen oder stellen namhafte Entlastungen in Aussicht, um auch als Arbeitsplatzstandort attraktiv zu bleiben. Dies betrifft beileibe nicht nur die USA, die auf den 1. Januar 2018 die Unternehmenssteuern von 35 auf 21 Prozent gesenkt haben. Auch in unmittelbarer Nachbarschaft zur Schweiz – in Italien und in Frankreich – stehen Steuersenkungen an. Gleichzeitig gelangte die Schweiz im Dezember 2017 auf die «graue Liste» aufgrund der bisher gescheiterten Abschaffung der international verpönten Steuerprivilegien für Holdings.
Beispiel Rentenreform: Angesichts rapider demografischer Veränderungen, ursprünglich als Vorlage zur Sicherung der Altersvorsorge angekündigt, zimmerte eine Mitte-links-Koalition in den eidgenössischen Räten schliesslich ein Ausbaupaket. Auch diese Vorlage wurde im Herbst 2017 vom Stimmvolk verworfen.
Verstrickung in Verteilkämpfe
Es ist augenfällig, dass wichtige Reformen einen zunehmend schweren Stand haben. Die Politik verstrickt sich immer mehr in Verteilkämpfe, anstatt die Weichen für die Zukunft richtig zu stellen. Sichtbares Zeichen des Stillstands ist, dass sich Teile der Gesellschaft in die Nostalgie zurückziehen. Die Psychologie sagt dazu, dass Nostalgie dann aufkommt, wenn die Welt als unsicher und schwer verständlich wahrgenommen wird.
Doch auch wenn wir eine gewisse Paralyse im Schweizer Politsystem konstatieren, ist daran zu erinnern, dass unsere direkte Demokratie kaum revolutionäre Sprünge zulässt, sondern sich nur evolutiv weiterentwickeln lässt. Auf Abstimmungen bezogen heisst das schrittweise Erneuerungen – etwa bei der Altersvorsorge, indem erste und zweite Säule in zwei separaten Reformen dem Volk vorzulegen sind. Wir werden nicht darum herumkommen, das Rentenalter mittelfristig automatisch an die Lebenserwartung anzupassen und das Potenzial der «Silver Economy» vermehrt nutzenstiftend für Wirtschaft und Gesellschaft einzusetzen.
Wenig hilfreich ist, wenn konservative Kräfte insbesondere in der Sozialdemokratie in solchen Fällen wortreich den Egoismus in der Gesellschaft beklagen, aber bei jeder Abstimmungsvorlage mittels Excel-Tabelle akribisch berechnen, welche Vor- und vor allem Nachteile einzelne Interessengruppen zu gewärtigen haben. Die gesellschaftliche Gesamtrechnung wird konsequent ausser Acht gelassen.
Tabuisierung von Zukunftsfragen
Selbstverständlich darf man stolz und selbstbewusst auf das Erreichte zurückblicken. Der einseitige Hang zur Nostalgie, von restaurativen Kreisen tatkräftig bewirtschaftet, führt aber nicht zu konstruktiven Lösungen, sondern zur Tabuisierung entscheidender Zukunftsfragen. Anstelle des Verharrens in der Komfortzone ist eine positive Erneuerungskraft vonnöten, anstelle der Bewirtschaftung der Wilhelm-Tell-Legenden ist die Arbeit am Bild eines zukunftsfähigen, digitalen Rütli gefragt. Zur Überwindung des Reformstaus ist auch beim Bundesrat mehr strategische Klarheit angezeigt.
Lichtblicke gibt es: Die Öffnung des überreglementierten und äusserst stark subventionierten Agrarmarktes wird anvisiert, die baldige Öffnung des Strommarktes wurde letzten Herbst (einmal mehr) versprochen. Doch im Verhältnis zu unserem wichtigsten Handelspartner – der EU – herrscht ein Status-quo-Denken, obwohl sich der europäische Binnenmarkt dynamisch weiterentwickelt. Ein abgestimmtes Vorgehen für einen tragfähigen Streitbeilegungsmechanismus ist nicht sichtbar.
Im bis heute praktizierten «autonomen Nachvollzug» zeigt sich auch terminologisch die Widersprüchlichkeit der Schweizer Europapolitik. Und mit der einjährigen Befristung der Börsenäquivalenz durch die EU wurde die Asymmetrie im Verhältnis zwischen Bern und Brüssel offensichtlich. Fast skurril mutet es an, dass der Bundesrat erst dann bereit ist, zur Stärkung des Finanzplatzes die veraltete Stempelsteuer abzuschaffen, wenn die EU die Schweizer Börsenregulierung nur befristet anerkennen will. Da dieser Schritt im Inland schon lange gefordert wird und jetzt nur auf indirekten Druck aus Brüssel zu Stande kommt, muss man fast von einem «positiven Kollateralschaden» sprechen. Das genügt aber auf Dauer nicht, um den hausgemachten Reformstau zu überwinden.
Dieser Beitrag ist im «St. Galler Tagblatt» vom 10. Januar 2018 erschienen.