Neben den Covid-19 (Teil-) Lockdowns in Europa und globalen Ankündigungen eines Impfstoffes ging diese Woche beinahe unter, dass sich in Asien 15 Länder zur weltweit grössten Freihandelszone der Welt zusammengeschlossen haben. Die Regional Comprehensive Economic Partnership (RCEP) umfasst nicht nur das Schwergewicht China, sondern auch die wirtschaftlichen Grossmächte Japan und Südkorea sowie die historisch mit dem Westen verbundenen Länder Australien und Neuseeland.
Für die Schweiz ist das Abkommen zuerst einmal eine Chance. Gemäss Berechnungen des Peterson Instituts soll die RCEP im Jahr 2030 ein jährlicher globaler Wachstumsstimulus von 186 Mrd. US-Dollar auslösen. Unsere Exportindustrie wird, dank dem Netzwerk bilateraler Freihandelsabkommen (FHA), daran teilhaben können. Ohne dass die Details des Vertragswerkes bereits öffentlich wären, wurde aber bereits vor einem Jahr kritisiert, dass das Abkommen kaum über die Regeln der Welthandelsorganisation hinausgehe. So würden die Zölle in einem ersten Schritt nur um 65% gesenkt.
Das Abkommen sollte aus westlicher Sicht nicht unterschätzt werden
Sollte dies tatsächlich der Fall sein, darf das Abkommen aus westlicher Sicht mittelfristig dennoch nicht unterschätzt werden: Denn erstens ist es ein Signal an die «traditionellen» Industrieländer, insbesondere die USA, dass viele asiatische Länder fähig und willens sind, fehlende Fortschritte des multilateralen Wegs durch bilaterale oder plurilaterale Abkommen zu kompensieren. Asien – so heterogen der Kontinent auch ist – hat sich von den im 19. und 20 Jahrhundert führenden Industrienationen wirtschaftlich und politisch zusehends emanzipiert. Dieser Prozess hat bereits vor Jahrzehnten begonnen und nun eine wichtige Wegmarke erreicht, die beidseits des Atlantiks wahrgenommen wird.
Zweitens bildet die RCEP eine Plattform, auf der bestehende Vereinbarungen aufdatiert und neue ausgehandelt werden dürften. Denn auch FHA unterliegen einer Dynamik. Ohne eine Anpassung an die realwirtschaftlichen Herausforderungen und Handelsströme erodiert der Nutzen für die beteiligten Parteien. Die Schweiz und die EU sind daran, diese Erfahrung zu machen, sollte das Rahmenabkommen scheitern.
Drittens umfasst die RCEP mehrere wachstumsstarke Länder wie Indonesien, die Philippinen und Thailand, die sich aufgrund einer jüngeren und wachsenden Bevölkerung sowie steigender Einkommen zu attraktiven Märkten entwickelt haben. So umfasst das FHA knapp 30% der weltweiten Wirtschaftsleistung und Bevölkerung sowie 28% des globalen Handels. Bis in zehn Jahren soll der Anteil der 15 RCEP-Mitgliedsländer auf mehr als 50% an der globalen Wirtschaftsleistung steigen. Die heute tripolare wirtschaftliche Weltordnung (vgl. Abbildung) aus RCEP, dem Nafta-Nachfolger United States-Mexico-Canada Agreement (USMCA) und dem Europäischen Wirtschaftsraum (EWR; alle EU-Staaten plus Norwegen, Island und Liechtenstein) dürfte sich damit nachhaltig zugunsten der RCEP verschieben.
«Eine tripolare weltwirtschaftliche Ordnung ist entstanden»
Viertens entwirrt ein plurilaterales Abkommen in der Regel den bilateralen Spaghetti-Bowl. Vereinfacht gesagt steigen mit zusätzlichen bilateralen Abkommen – sofern mit jedem Handelspartner unterschiedliche Regelungen getroffen werden – für Unternehmen die Komplexitätskosten. Ein oft zitiertes Beispiel sind die Ursprungsregeln, die je nach Abkommen für dasselbe Produkt unterschiedlich nachgewiesen bzw. verzollt werden müssen. Insbesondere bei tiefen WTO-Zollsätzen verzichten viele Unternehmen deshalb auf die Anwendung bestehender bilateralen FHA, weil die Zollersparnis die Umstellungskosten (um das FHA konform nutzen zu können) nicht aufwiegt. Die Nutzungsrate eines FHA beträgt deshalb kaum je 100%. Vereinbaren nun aber bisher über bilaterale Abkommen verbundene Handelspartner ein gemeinsames Abkommen, gelten einheitliche Regeln, die ineinander «verhedderten Spagetti» entwirren sich. Darin besteht ein erheblicher Teil des Nutzens plurilateraler und insbesondere multilateraler Ansätze.RCEP-Auswirkungen auch auf nicht-Mitglieder
Eine unmittelbare Auswirkung der RCEP ist, dass der multilaterale Weg über die Welthandelsorganisation (WTO) weiter an Attraktivität einbüsst: angefangen bei der seit 2001 andauernden Doha-Handelsrunde, die faktisch für gescheitert erklärt werden kann, bis zur derzeitigen Blockade der wichtigen Institution des Berufsgremiums. Viele Mitgliedsländer haben reagiert, so ist bereits seit den 1990er Jahren ein Anstieg regionaler FHA festzustellen. Zurzeit sind über 300 solcher Vereinbarungen in Kraft. Es wird den langen Atem einer breiten «Koalition der Willigen» brauchen, um die notwendigen WTO-Reformen anzustossen und durchzuziehen.
RCEP befeuert weiter den Wettstreit zwischen den USA und China um die globale Führungsrolle. Die Aussenwirtschaftspolitik der USA, insbesondere unter der Administration Trump, eröffnete der chinesischen Seite in den letzten Jahren erst den Raum, um als neuer Fürsprecher der Globalisierung aufzutreten. In guter Erinnerung ist das Plädoyer des chinesischen Staatschefs Xi Jinpingam Weltwirtschaftsforum (WEF) 2017 für weltweiten Freihandel und seine Kritik am Protektionismus. Die chinesische Haltung wurde im folgenden Jahr ebenfalls am WEF durch Liu He, Wirtschaftsberater der chinesischen Führung, bestärkt. Und der chinesische Ministerpräsident Li Keqiang nannte das eben abgeschlossene RCEP ein Sieg für den Multilateralismus und den Freihandel.
Dabei wurde die Übungsanlage ursprünglich anders geplant, die Trans-Pacific Partnership (TPP) war als US-amerikanisches «Gegenstück» zur RCEP von China konzipiert. Doch nach dem Ausstieg der USA 2017 führten die elf verbliebenen asiatischen und pazifischen Anrainerstaaten die Verhandlungen selbst zu Ende. Das heute Comprehensive and Progressive Agreement for Trans-Pacific Partnership (CPTPP) genannte Abkommen ist bereits in Kraft, wobei die sieben Mitglieder Australien, Brunei, Japan, Malaysia, Neuseeland, Singapur und Vietnam sowohl Mitglied der CPTPP wie auch der RCEP sind.
Kampf um das Narrativ des liberalen und demokratischen Wirtschaftsmodells
Die USA unter einer Administration Biden werden entscheiden müssen, was sie der verstärkten globalen Einflussnahme Chinas entgegensetzen. Bereits heute übertrifft in immer mehr Ländern das Handelsvolumen mit China den Austausch mit den USA, wie eine animierte Grafik anschaulich belegt. Doch aus westlicher Sicht geht es bei der zukünftigen US-amerikanischen Aussenwirtschaftspolitik mittelfristig auch um die narrative Deutungshoheit über den Erfolg des liberalen, demokratischen Wirtschaftsmodells.
Neben der Stärkung des multilateralen Ansatzes und dem (Wieder-) Beitritt zum plurilateralen Abkommen CPTPP bleibt aus Sicht der USA auch die Wiederbelebung des Abkommens mit der EU eine Option. Ein transatlantisches Abkommen wäre ein Signal der Stärke gegenüber China und – unbeabsichtigt – eine Herausforderung für die Schweiz. Damit unsere Exportunternehmen gegenüber ihren wichtigsten Konkurrenten nicht ins Hintertreffen geraten, muss die Schweiz ihrerseits nicht nur die Beziehungen zur EU auf eine stabile(re) Basis stellen, sondern auch bereit sein, interne Reformen (z.B. Agrarpolitik) anzupacken, um weitere, wirtschaftlich bedeutende FHA abzuschliessen, z.B. mit den USA. Eine intensivierte wirtschaftliche und letztlich auch politische Zusammenarbeit mit «like minded» Staaten wird in den nächsten Jahren wichtiger werden. Dies insbesondere für ein kleines, wirtschaftlich aber durchaus bedeutendes Land wie die Schweiz, das nach wie vor keinem grossen Wirtschaftsraum als Mitglied angehört.