Selbst Dagmar Rösler, Zentralpräsidentin des Dachverbandes der Lehrerinnen und Lehrer Schweiz, war am 13. März überrascht, als der Bundesrat verkündete, alle Schulen zu schliessen. Mittlerweile haben fast alle Länder Europas denselben Weg gewählt. Auch wenn die allgemeine Unsicherheit gross ist: Die Konsequenzen der Schulschliessungen sind auf lange Sicht wohl weniger gravierend als gemeinhin angenommen. Dies hängt aber wesentlich von der Dauer der Massnahmen und dem Lernerfolg der Schüler ab. Kinder, Eltern und Lehrer setzen alles daran, die negativen Folgen möglichst gering zu halten.

660’000 Familien betroffen

Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie war noch nie einfach, in der jetzigen Situation werden Eltern jedoch vor zusätzliche Herausforderungen gestellt: Neben dem normalen Arbeitspensum, jetzt oft im Homeoffice, müssen auch noch die Kinder betreut werden, meistens ohne dass infolge des Social-Distancing-Gebots auf Verwandte oder Bekannte zurückgegriffen werden kann. Rund jeder vierte Erwerbstätige hat Kinder unter 15 Jahren – also rund 660‘000 Haushalte sind davon betroffen (vgl. Abbildung 1)[1]. Wie schwierig diese Doppelrolle ist, hängt nicht zuletzt vom Familienmodell ab.

Am meisten Schwierigkeiten bei der Vereinbarkeit von Arbeits- und Schulalltag dürften die Alleinerziehenden haben und jene 12% der Familien, bei denen beide Eltern Vollzeit berufstätig sind – da sich ein Elternteil der Betreuung widmen muss. Für die rund 20% der Familien, die das «traditionelle» Modell leben, dürfte hingegen der Alltag von der Schulschliessung weniger stark beeinträchtigt sein, da sich das nicht erwerbstätige Elternteil auf die Betreuung konzentrieren kann. Bei den rund 60% der Familien, bei denen ein oder beide Elternteile Teilzeit arbeiten, ist hingegen zu befürchten, dass die Last der Betreuung vorwiegend auf die Zweitverdiener fallen wird – in rund 90% der Fälle handelt es sich dabei um eine Frau.  Trotz dem Engagement der Lehrpersonen, die auf virtuellem oder postalischem Weg Arbeitsaufträge zustellen, kommt ihnen eine äusserst zeitintensive Rolle im «Schulalltag» ihrer Kinder zu. Je nach Alter und Selbstständigkeit der Kinder sind viele Familien damit ausserordentlich gefordert.

Geringe volkswirtschaftliche Kosten durch Schulschliessungen

Flächendeckende Schulschliessungen haben volkswirtschaftliche Kosten. Schätzungen für das Vereinigte Königreich gehen bei einem 12-wöchigen Lockdown von Kosten aufgrund des Arbeitsausfalls der Eltern in Höhe von 0,2% bis 1% des BIP aus – ähnliche Effekte werden für die USA geschätzt.[2] Jedoch können solche Studienergebnisse nicht direkt auf die Schweiz und auf die heutige Situation übertragen werden, da die Annahmen über das Ausmass des Arbeitsausfalls der Eltern entscheidend sind.

In der jetzigen Pandemiesituation ist es schwierig, genaue Schätzungen über die Produktivitätseinbussen von Eltern in der Schweiz zu machen, da mehrere Faktoren berücksichtigt werden müssen: Einerseits wird das Arbeitsvolumen einiger Eltern aufgrund der Massnahmen des Bundes unabhängig der Schulschliessungen stark eingeschränkt – diese Eltern könnten nicht arbeiten, auch wenn sie sich nicht um die Betreuung der Kinder kümmern müssen (z.B. im Gastgewerbe). Gemäss einer Umfrage ist das Arbeitsvolumen zurzeit bei rund jeder Dritten Erwerbsperson in der Schweiz reduziert[3]. Anderseits bieten Kantone und Gemeinden in der Regel Betreuungsmöglichkeiten für Eltern an, deren Arbeitstätigkeit für die Versorgung der Bevölkerung unerlässlich ist (z.B. Gesundheitspersonal). Ein kleiner Teil der erwerbstätigen Eltern kann die Kinderbetreuung also auslagern.

Eine grobe Schätzung der Auswirkungen der Schliessung von Schulen für die Schweiz könnte folgendermassen aussehen: Angenommen in rund 40% der Familien kann ein Elternteil aufgrund der Massnahmen des Bundes keiner Beschäftigung mehr nachgehen (z.B. als Coiffeur) oder die Betreuung wird an den Staat oder an Bekannte und Verwandte ausgelagert. Bei den restlichen 60% der Familien kann davon ausgegangen werden, dass jeweils ein Elternteil an den Tagen nicht produktiv ist, an denen beide Eltern erwerbstätig sind. Über den Daumen gerechnet würden somit volkswirtschaftliche Kosten aufgrund der Produktivitätseinbussen bei einer 12-wöchigen Schulschliessung in der Höhe von rund 0,5% des BIP entstehen. Die Kosten des Arbeitsausfalls der Eltern bei einer Kita- und Schulschliessung dürften angesichts der gesamthaft geschätzten volkswirtschaftlichen Kosten eines Lockdowns von 4 Mrd. Fr. pro Woche[4] (also rund 7% des BIP in 12 Wochen) nur wenig ins Gewicht fallen. Die hier geschätzten Kosten der Schulschliessung weisen lediglich die Wertschöpfungseinbussen aus, tragen jedoch der zusätzlichen Belastung der Eltern nicht Rechnung.

Zur Methode

Die 576 000 erwerbstätigen Mütter mit Kindern unter 15 Jahren besetzten hochgerechnet rund 350'000 Vollzeitstellen (wir konzentrieren uns auf die Mütter unter der Annahme, dass die Väter Vollzeit arbeiten). Nehmen wir auf Basis der Sake-Daten zur Branchenzugehörigkeit der erwerbstätigen Mütter an, dass 20% der Mütter in Branchen arbeiten, die aufgrund der Massnahmen ein stark reduziertes Arbeitsvolumen aufweisen (z.B. Gastgewerbe, Unterhaltungsbranche, persönliche Dienstleistungen), und weitere 20% sind im Gesundheits- und Sozialwesen tätig, so dass sie die Betreuung auslagern können (an die Väter, die Gemeinde oder Verwandte/Bekannte). Die restlichen 60% der Mütter (211'000 VZÄ) weisen eine Arbeitsproduktivität von Null auf, weil sie sich um die Betreuung kümmern müssen. Der Wert der verlorenen Arbeitsproduktivität kann anhand des Lohnes (hier Medianlohn von Frauen) quantifiziert werden (211'000 x 6000 Fr. = 1,2 Mr. Fr.). Die Mütter stehen hier stellvertretend für den Elternteil, der die Betreuung übernimmt, in der Realität dürften sich jedoch viele Eltern die Betreuung teilen.

Schulschliessung heisst nicht schulfrei

Schulschliessung bedeutet im aktuellen Kontext, dass die Schüler nach Hause geschickt werden, während die Institution Schule je nach Kanton und Möglichkeit ihren Betrieb aufrechterhält. Die Kinder und Jugendlichen müssen zwar nicht in den Unterricht, lernen sollen sie trotzdem. Diese Situation ist für die meisten ein absolutes Novum, für andere Alltag, denn viele Kantone lassen Homeschooling zu, also den privaten Unterricht zuhause (vgl. hierzu Avenir-Suisse-Freiheitsindex 2019). Insgesamt dürfte es sich um weniger als 1% der schulpflichtigen Kinder handeln.[5] Alle anderen, mit Homeschooling unerfahrenen Kinder, Eltern und Lehrer brauchen jetzt schnellstmöglich Handlungsanleitungen, damit möglichst der geregelten Arbeit nachgegangen werden kann. In dieser neuen Dreieckskonstellation Schüler–Eltern–Lehrerperson ist Flexibilität von allen Beteiligten gefragt.

Angst vor Bildungslücken

Schulschliessungen haben erwiesenermassen Auswirkungen auf den Lernerfolg. Die uns bekannte wissenschaftliche Literatur kontrolliert jedoch nicht, inwiefern während der Schliessungen Unterricht zuhause stattfindet. Zu erwähnen sind beispielsweise Studien über Schliessungen aufgrund von Schneestürmen in den USA oder wegen Lehrerstreiks.

Eine Publikation aus dem Jahr 2008 kam zum Schluss, dass unerwartete Schulschliessungen in Maryland (USA) wegen ausserordentlicher Wetterbedingungen im Nachhinein zu schlechteren Testresultaten führten,[6] wobei jüngere Schüler tendenziell schlechter abschnitten als ihre älteren Kollegen. Ihre Lernfähigkeiten litten eher unter den Massnahmen. Eine andere Studie aus dem Jahr 2013, die sich ebenfalls auf die verringerte Anzahl Unterrichtstage stützt, bestätigt die These, dass weniger Schultage geringere Punktzahlen bei Tests ergeben.[7] Ähnliche Auswirkungen auf den Lernerfolg zeigen Untersuchungen, wenn Schulschliessungen infolge von Streiks von Lehrpersonen erfolgen. Eine Studie aus Belgien legt nahe, dass die Schüler, deren Schulen geschlossen werden mussten, während ihres Studiums eher Prüfungen wiederholten, ihre Ausbildung tendenziell später abschlossen und häufiger von einer Universität an eine Fachhochschule wechselten.[8] Ebenso zeigte eine Untersuchung über Argentinien, dass sich die Arbeitsmarktaussichten von Schülern eintrübten, wo Lehrerpersonen über mehrere Jahre hinweg im Schnitt zwölf Tage streikten.[9]

Der Schulbesuch hat also einen Einfluss auf den Lernerfolg und auf die sich angeeigneten Kompetenzen. Jedoch können daraus nur beschränkt Schlussfolgerungen für die jetzige Situation gezogen werden. So entspricht keines der obigen Beispiele der gegenwärtigen Konstellation: Schule geschlossen – Unterricht findet statt – Eltern im Homeoffice. Hinzu kommt: Die Schweiz ist aufgrund des föderal organisierten Bildungssystems ein Sonderfall: Je nach Kanton gibt es grosse Unterschiede in den Stundentafeln und der durchschnittlichen jährlichen Anzahl Lektionen (vgl. Abbildung).

Schon jetzt beläuft sich der Unterschied in der Unterrichtszeit zwischen dem Kanton Luzern (741 Stunden) und dem Kanton Genf (928 Stunden) auf 187 Stunden. Das sind beinahe 10 Schulwochen, also mehr als zwei Monatepro Jahr.[10] Und im Kanton Aargau beispielsweise dauert es ein Jahr länger bis zur Erreichung der Maturität.[11] Zwar ist die Erfolgsquote für einen Bachelorabschluss der Aargauer Studenten ein bisschen besser (85%) als der schweizweite Durchschnitt (81%) – inwiefern die längere Schulzeit hierfür verantwortlich ist, wurde aber nicht geklärt.[12] Individuelle Faktoren spielen ebenso eine entscheidende Rolle. Fest steht, dass es beträchtliche Abweichungen in den Präsenzstunden gibt, ohne dass sich diese negativ bemerkbar machen würden.

Also alles halb so schlimm?

Natürlich kann die Dynamik im Schulzimmer daheim nicht repliziert werden. Und im Unterschied zum Homeschooling, bei dem sich eine Bezugsperson intensiv um die Vermittlung des Schulstoffs kümmert, müssen derzeit die meisten Eltern (vgl. oben) der schulpflichtigen Kinder nebenbei noch ihre Arbeit verrichten. Ganz allein gelassen werden sie dabei jedoch nicht. Die Lehrpersonen sind in der gegenwärtigen Situation zwar nicht physisch präsent und können durch die Eltern nicht einfach substituiert werden, trotzdem glänzen sie nicht mit Abwesenheit – ganz im Gegenteil. Sie sind hoch motiviert und versuchen ihre Schützlinge nach Kräften zu unterstützen, indem sie Lernmaterial wochenweise zusammenstellen oder für Fragen erreichbar bleiben.

Kinder, deren Betreuung zuhause nicht optimal ist, leiden unter den jetzigen Bedingungen mehr, als Kinder, die laufend gefördert werden. Es ist davon auszugehen, dass die Leistungsunterschiede zwischen den einzelnen Schülern grösser werden. Forderungen, wonach ein ganzer Jahrgang eine Schulstufe wiederholen soll,[13] sind jedoch übertrieben und schlicht nicht praktikabel. Es fehlen zusätzliche Lehrer sowie der Platz. Es bleibt daher abzuwarten, welchen Lernerfolg die Schüler in dieser einzigartigen Situation erzielen. Dieser ist nach Wiederaufnahme des regulären Unterrichts schnellstmöglich zu identifizieren. Nach Möglichkeit sollen Wissenslücken individuell unter Anleitung der Lehrperson geschlossen werden. Schon heute fördern und unterstützen Lehrpersonen ihre Schüler individuell. Sollten flächendeckende Lücken festgestellt werden, wären gezielte Nachholkurse denkbar.

Am Ende ist aber nicht entscheidend, welche Noten geschrieben und Testresultate erzielt werden, sondern was während der Schulzeit gelernt und fürs Leben mitgenommen wird. Diese Krise konfrontiert die Schüler mit mehr Wissen über Hygiene, Epidemien, Pandemien, arbeitsteilige Wirtschaft, globale Handelsströme, Solidarität und vieles mehr als alle Projektwochen zusammen. Sie üben sich in Selbstorganisation und müssen sich, zwangsläufig, mit der Arbeitstätigkeit der Mutter und des Vaters auseinandersetzen. – Sie lernen also, wie die Brötchen am Ende auf den Tisch kommen. Aufklärende Diskussionen beim Abendessen dürften unausweichlich sein. Die Corona-Krise bietet extremes Anschauungsmaterial, das sich so niemand gewünscht hat. Man darf aber, was die Fähigkeiten der betroffenen Schülergeneration anbelangt, trotz oder vielleicht gerade wegen der ausserordentlichen Situation, optimistisch in die Zukunft blicken.

[1] Als Grundlage zur Schätzung der Anzahl von der Schulschliessung betroffener Familien dienen die Zahlen zu den Haushalten mit jüngstem Kind unter 12 Jahren.

[2] Sadique MZ, Adams EJ, Edmunds WJ. (2008): Estimating the costs of school closure for mitigating an influenza pandemic. BMC Public Health 2008 (8), 135. / Lempel, Howard; Epstein, Joshua M.; Hammond Ross A (2009): Economic Cost and Health Care Workforce Effects of School Closures in the U.S. Center on Social and Economic Dynamics; 2009.

[3] Sotomo (2020): Die Schweiz und die Corona-Krise. Monitoring der Bevölkerung (24.03.2020).

[4] BAK (2020): Schweizer Wirtschaft droht Quarantäne. Medienmitteilung vom 23.03.2020.

[5] SKBF (2018). Bildungsbericht Schweiz 2018. Aarau: Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung

[6] Dave E. Marcotte and Steven W. Hemel. Unscheduled School Closings and Student Performance. Education Finance and Policy 2008 3:3, 316-338.

[7] Hansen, Benjamin, School Year Length and Student Performance: Quasi-Experimental Evidence (October 20, 2011).

[8] Belot, M., & Webbink, D. (2010). Do Teacher Strikes Harm Educational Attainment of Students? LABOUR, 24(4), 391–406.

[9] Jaume, David, and Alexander Willén. "The long-run effects of teacher strikes: evidence from Argentina." Journal of Labor Economics 37.4 (2019): 1097-1139.

[10] 52 Wochen - durchschnittliche 13 Wochen Schulferien= 39 Schulwochen

741 Schulstunden / 39 Schulwochen = 19 Schulstunden pro Woche im Kanton Luzern

187 Differenz / 19 = 9,842 Schulwochen

[11] AG 13 Jahre, im Grossteil der anderen Kantonen 12 Jahre

[12] Andrea Diem. Analyse von Studienverläufen und -erfolgsquoten im Kanton Aargau mit BFS-Daten. Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung (SKBF)

[13] Neue Zürcher Zeitung 22. März 2020: Die oberste Zürcher Schulleiterin sagt: «Es wird nicht einzelne Kinder geben, die eine Klasse wiederholen müssen – das wird eher flächendeckend ein Problem»