Historisch sind China und Singapur eng verbandelt. Zur Zeit der Regierung Deng Xiaopings herrschte eine grosse Begeisterung für Singapur und dessen Politik. Ein regelrechtes Singapur-Fieber wurde von ausländischen Beobachtern festgestellt. Xiaoping selbst bezeichnete Singapur als «Paradiesstadt, die es wert ist, wegen ihrer Begrünung, ihres öffentlichen Wohnungsbaus und ihres Tourismus studiert zu werden». Diese Vorbildfunktion hinterliess Spuren und führte zu einer noch heute bestehenden Anhängerschaft in Teilen der chinesischen Bevölkerung. Hinzu kommt, dass in Singapur zu drei Vierteln Han-Chinesen leben, was die Identifikation mit dem Stadtstaat zusätzlich verstärkt – insbesondere angesichts staatlich befeuerter nationalistischer Tendenzen in China.

Dies steht im Kontrast zu Singapurs Selbstverständnis, denn bereits kurz nach Gründung der Republik Singapur bemühte man sich, eine eigene nationale Identität zu schaffen. Zwar wird die ethnische Zugehörigkeit, die sogenannte CMIO-Kategorisierung (Chinese-Malay-Indian-Other), in offiziellen Dokumenten festgehalten. Doch das offizielle Narrativ stützt sich stark auf die multiethnische, mehrsprachige Zusammensetzung der Bevölkerung. Die Idee eines «drittes China» wurde von Lee Kuan Yew, dem ersten Premierminister der Republik Singapur, ausdrücklich verworfen. Der Erhalt der Souveränität geniesst in der Strategie Singapurs einen hohen Stellenwert.

Weiteren Einfluss auf die gegenseitigen Beziehungen hat die «Belt-and-Road-Initiative» (BRI). Ein erklärtes Ziel der chinesischen Regierung ist, die Abhängigkeit vom Seehandel zu verringern. Denn die Kontrolle der Strasse Malakkas und damit eines überwältigenden Anteils der chinesischen Seehandelsströme gibt dem Kleinstaat Singapur einen mächtigen Hebel in die Hand, um die diplomatischen Beziehungen zu gestalten. So ist Singapur in die BRI eingebunden: Das Knowhow und Netzwerk des Finanzplatzes werden genutzt, wesentliche Finanzströme fliessen über Singapur.

Die Kontrolle der Strasse Malakkas und damit eines überwältigenden Anteils der chinesischen Seehandelsströme gibt Singapur einen mächtigen Hebel in die Hand. (Tony Shi Hou Tang, Unsplash)

Heikles Beziehungsdreieck

Das Beziehungsgeflecht ist jedoch nicht vollständig, ohne die USA und damit den Westen miteinzubeziehen. Die wirtschaftliche Verbandelung Singapurs mit dem Westen wird anhand der ausländischen Kapitalbestände in der Republik ersichtlich. Je rund 40% davon stammten 2019 aus den USA und der EU-27. Nur 6% haben ihren Ursprung in China oder Hongkong. Von der Grössenordnung her spielen die Schweizer Investitionen in Singapur mit 3,7% fast in der gleichen Liga wie diejenigen Chinas und Hongkongs zusammen. Ähnliches ist beim Warenhandel zu beobachten. So importiert Singapur aus den USA mehr als das Eineinhalbfache des Warenwerts als von China und Hongkong. Auf der Exportseite ist China (inkl. Hongkong) der grösste Abnehmer Singapurs, noch vor den USA.

Die wirtschaftliche Verflechtung Singapurs sowohl mit den USA als auch mit China fusst auf einem Freihandelsabkommen (FHA). Zusätzlich wurden beidseitige Vereinfachungen der Visa-Erteilungen mit den USA ausgehandelt. Der Stadtstaat wird von Seiten der USA deshalb offiziell als «enger Partner» bezeichnet. Singapur gelingt es, sich im heiklen Beziehungsdreieck mit beiden Hegemonialmächten gutzustellen.

Das Lavieren Singapurs endet jedoch nicht in der institutionellen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit, sondern gipfelt gar in einer militärischen Kooperation sowohl mit der Volksrepublik China als auch mit Taiwan. So werden beispielsweise gemeinsame Seemanöver mit der chinesischen Marine abgehalten, während die Landstreitkräfte mit der taiwanesischen Seite üben. Ferner wurde 2019 der Vertrag verlängert, der den USA Zugang und logistische Unterstützung ihrer See- und Luftstreitkräfte zuspricht. Dieses Vabanquespiel hat aber auch seine Limitierungen. 2016 kam es zum Eklat, und die Rücklieferung des militärischen Geräts in Hongkong wurde aufgehalten. Aber auch die Nähe zu den USA und die Fragen um die «Nine-Dash-Line» im Südchinesischen Meer führen vermehrt zu Spannungen. Trotz dem Druck vonseiten Festlandchinas schloss Singapur mit Taiwan ein aufdatiertes Abkommen zur Kooperation ab.

Singapur als Vorbild für die Schweiz?

Die Schweiz und Singapur verbindet einiges. Noch heute wird der kleine Stadtstaat als «die Schweiz Asiens» bezeichnet, und viele halten Singapur in Teilen als Vorbild für die Schweiz. Gemein sind beiden Kleinstaaten ein hohes Pro-Kopf-Einkommen, ein hoher Lebensstandard und ein starker Finanzplatz. Des Weiteren weisen beide Staaten eine hohe politische Stabilität auf und profitieren von einem soliden Währungssystem. Auch die Interessenslage ist insofern ähnlich, dass sich beide aktiv in multilateralen Organisationen einsetzen.

Die Gleichheit hat aber auch ihre klaren Grenzen. Sie endet beim staatspolitischen Aufbau: So sind politische Rechte und zivile Freiheiten in der Republik Singapur stark eingeschränkt, die Institutionen spielen eine stark untergeordnete Rolle und sind mit dem direktdemokratischen System der Schweiz nicht vergleichbar. Die staatliche Zensur wird mit drakonischen Freiheitsstrafen durchgesetzt, im Weltranking der Pressefreiheit landet Singapur auf einem der letzten Plätze. Die grosszügigen ökonomischen Freiheiten werden somit durch eine starke Einschränkung ziviler Freiheiten konterkariert. Während Singapur auf dem 88. Platz im internationalen Freiheitsranking landet, wird die Schweiz auf dem ersten Platz gelistet.

Die aussenpolitischen Implikationen sind dadurch ebenfalls unterschiedlich. Der fehlende Einbezug der Bevölkerung ermöglicht Singapur ein opportunistisches und normativ inkohärentes Verhalten. In der Schweiz verhindern die demokratisch legitimierte Regierung und die direktdemokratische Einflussnahme der Bevölkerung ein allzu opportunistisches Agieren der Regierung. So ist die «Blindheit» Singapurs gegenüber dem chinesischen Auftreten im Südchinesischen Meer oder der Unterdrückung der Uiguren keine Option für die Schweiz.

Trotz allem ist der bislang erfolgreich lavierende Stadtstaat nicht immun gegen die Verschlechterung der Beziehung zwischen China und den USA. Für jeden Schritt, den Singapur auf die eine Seite zugeht, macht er einen ähnlichen Schritt hin zur Gegenseite. Damit meistert der kleine Stadtstaat die Politik des «Brinkmanships» auf Seiten der USA und Chinas. In jüngster Zeit wird die Beziehung zu den beiden Grossmächten jedoch immer mehr von exogenen Faktoren bestimmt und liegt damit ausserhalb der Kontrolle Singapurs. Der einst elegante Tanz verkommt je länger desto mehr zu einem Laufen auf heissen Kohlen.

Weiterführende Informationen zum Thema finden Sie in unserer Studie «Navigieren in unruhigen Gewässern – Drei Optionen für die Schweiz im Umgang mit China».