Die steigenden Ansprüche der wissens- und technologiebasierten Volkswirtschaften an das Humankapital, der langsam wachsende Pool an Arbeitskräften und die Wachstumsschwäche in weiten Teilen der Welt erfordern den effizienten Einsatz menschlicher Ressourcen. Das setzt voraus, dass die Diskrepanz zwischen vorhandenen und benötigten Qualifikationen, der sogenannte skills mismatch, abgebaut wird. Die OECD hat das Ausmass und die Folgen dieses Missverhältnisses im Zusammenhang mit einer Studie über die Zukunft der Produktivität untersucht und länderbezogene Vergleiche angestellt (OECD 2015: The Future of Productivity). Dabei thematisiert sie sowohl Unter- wie auch Überqualifizierung («under-skilling» und «over-skilling»).

Grosse nationale Unterschiede

Die Diskrepanz zwischen vorhandenen und geforderten Qualifikationen ist relativ hoch, variiert aber von Land zu Land stark (vgl. Grafik). Sie ist dort besonders ausgeprägt, wo die Mobilität der Arbeitskräfte eingeschränkt ist – Italien und Spanien sind prominente Beispiele – und wo die Angebote an On-the-job-Training und lebenslanger Weiterbildung gering sind, beziehungsweise wenig genutzt werden. Zum skills mismatch bei jungen Erwerbstätigen tragen Gesetze zum Schutz der schon Beschäftigten bei: Statt ihre Qualifikationen ausspielen und verbessern zu können, müssen sich gut ausgebildete Jugendliche mit Gelegenheitsjobs durchschlagen.

Angesichts der vielen Klagen über einen Fachkräftemangel erscheint es auf den ersten Blick erstaunlich, dass Überqualifizierung markant höher als Unterqualifizierung ausgewiesen wird. Die Pariser Experten führen dies vor allem darauf zurück, dass gut qualifizierte Arbeitskräfte in Unternehmen mit geringer Innovationskraft und Produktivität «gefangen» sind, was die effiziente Allokation des Humankapitals verhindert. Es dürfte auch damit zu tun haben, dass die Evaluation zum Teil auf Umfragen bei Arbeitgebern und Beschäftigten beruht. Dass das Fehlen einer praxisnahen Ausbildung eine wichtige Rolle spielt, wird in der Studie nicht angesprochen.

Mitarbeiteranteil mit skill mismatch_690px

Hoher Stellenwert lebenslanger Weiterbildung

Die Mobilität der Arbeitskräfte wird durch folgende Faktoren eingeschränkt: die Vorzugsbehandlung etablierter Beschäftigter, eine Gesetzgebung, die die Geschäftsaufgabe und Gesundschrumpfung erschwert, zentralisierte Lohnfindungen und -abschlüsse, die fehlende Übertragbarkeit von Ansprüchen an die Pensionskassen sowie die Überregulierung des Häuser- und Wohnungsmarktes durch Mietzinskontrollen, eine starre Mieterschutzgesetzgebung und hohe Transaktionskosten bei Handänderungen. In diesen Bereichen fordert die OECD zu Recht Reformen ein. Ebenfalls zu Recht betont sie den hohen Stellenwert der lebenslangen Weiterbildung. Leider hat die duale Berufsbildung trotz ihrer zunehmenden Akzeptanz und Vorbildwirkung keinen Eingang in die Handlungsempfehlungen gefunden. Hier müsste die OECD, die niedrige Maturitätsquoten gerade auch in der Schweiz immer wieder gerügt hat, über ihren Schatten springen.

Die Schweiz fehlt in der OECD-Analyse. Faktoren wie der im internationalen Vergleich flexible Arbeitsmarkt und das erprobte Bildungs- und Ausbildungssystem deuten darauf hin, dass sie gut abschneiden würde. Dieser Befund wird durch eine Untersuchung der International Labour Organization (ILO) bestätigt (ILO 2014: Skills mismatch in Europe – Statistics Brief). Sie ist enger gefasst als die OECD-Studie und verzichtet im Gegensatz dazu weitgehend auf Interpretationen und Empfehlungen. Auch sie ortet einen hohen skills mismatch, nimmt sowohl Unter- als auch Überqualifizierung ins Visier, stuft aber letztere bedeutend niedriger ein als die OECD. Die Studie zeigt, dass das Missverhältnis zwischen vorhandenen und geforderten Qualifikationen in der Schweiz geringer ist als in fast allen 35 berücksichtigten europäischen Ländern.