Der Staat kann durch finanzielle Anreize nicht nur die Nachfrage, sondern auch das Angebot von Pflegeleistungen steuern, etwa indem er das Entstehen oder Aufrechterhalten spezifischer Dienste, zum Beispiel in der Grundversorgung oder im Bereich Palliative Care, besonders vergütet. Er kann ferner gemeinnützige Leistungserbringer gegenüber erwerbsorientierten Anbietern besser- oder schlechterstellen, und er kann die Vielfalt von nicht-pflegerischen Leistungen fördern, indem er in diesem Bereich keine Tarif-Einschränkungen vornimmt.
Intransparente Abgeltung
Im Bereich der ambulanten Pflege kann man grundsätzlich zwei Typen von Anbietern unterscheiden: jene mit und jene ohne Versorgungspflicht. Erstere sind zum Beispiel verpflichtet, jeden Patienten zu versorgen, auch wenn dieser sehr weit entfernt vom Stützpunkt der Spitex-Organisation wohnt oder der Einsatz sehr kurz ist. Die Behandlung dieser Patienten ist für die Spitex-Organisation finanziell unattraktiv, weil die nicht-vergütete Reisezeit im Verhältnis zu den vergüteten Pflegeminuten sehr hoch ist. Auch kann die Versorgungspflicht einen Pikettdienst zu Randzeiten, in der Nacht oder am Wochenende enthalten.
Bis vor wenigen Jahrzehnten gab es in den meisten Gemeinden nur eine gemeinnützige Spitex-Organisation, die als Monopolistin alle Nachfrager im Versorgungsgebiet behandelte. Mit dem Aufkommen privater Spitex-Anbieter und selbständiger Pflegefachpersonen, die keiner Versorgungspflicht unterstellt sind, werden zunehmend mehr Pflegebedürftige durch die neuen Anbieter betreut und gepflegt.
Spitex-Organisationen mit Versorgungspflicht werfen den privaten Anbietern Rosinenpicken vor, weil sie nur Patienten mit hohem zeitlichem Tagespflege- und Betreuungsbedarf, jedoch wenig komplexen Bedürfnissen annähmen, die zudem in unmittelbarer Nähe wohnten. Umgekehrt werfen private Anbieter den Spitex-Organisationen mit Versorgungspflicht Ineffizienz, wenig Flexibilität, stetige Personalwechsel bei der Betreuung der Patienten und fehlende Kundenorientierung vor.
Eine Studie zeigt, dass im Kanton Zürich die Spitex-Organisationen mit Versorgungspflicht tatsächlich deutlich mehr Kurzeinsätze wahrnehmen müssen, dass sie komplexere Pflegefälle behandeln und daher auch auf besser qualifiziertes, teureres Personal angewiesen sind. Auch bilden sie mehr Lehrlinge aus als Anbieter ohne Versorgungspflicht. Hingegen stimmt es offenbar nicht, dass Anbieter ohne Versorgungspflicht kürzere Anfahrtswege haben. Die meisten sind über die Gemeinde-, manche sogar über die Regions- oder Kantonsgrenze hinweg tätig. Das Nachtangebot ist bei Anbietern ohne Versorgungspflicht umfassender als bei den Spitex-Organisationen mit Versorgungspflicht, während das Angebot am Wochenende vergleichbar ist. Schliesslich nehmen zwar die Mitarbeiter von Spitex-Organisation mit Versorgungspflicht mehr an Weiter- und Fortbildungen teil als die Mitarbeiter der Anbieter ohne Versorgungspflicht, am meisten werden die Weiterbildungsangebote jedoch von den selbständigen Pflegefachpersonen genutzt.
Das Beispiel des Kantons Zürich zeigt, wie schwer es ist, die Zwänge der Versorgungspflicht und ihre finanziellen Konsequenzen genau zu beschreiben. Klar ist jedoch, dass diese Unschärfe die Gefahr birgt, dass betriebliche Ineffizienzen als Folge der Versorgungspflicht dargestellt werden. Deshalb ist es wichtig, dass die Kantone oder die zuständigen Gemeinden den Umfang der Versorgungspflicht möglichst genau beschreiben und nur die daraus entstehenden spezifischen Leistungen vergüten.
Ungenutzte Steuerungsmöglichkeiten
Vor diesem Hintergrund vergeben sich Kantone oder Gemeinden, die Defizitgarantien für Spitex-Organisationen mit Versorgungspflicht gewähren, einige Möglichkeiten der Steuerung. Defizitgarantien bieten keine Anreize für einen schonenden Umgang mit knappen Ressourcen, und sie zwingen nicht zu einer sauberen Unterscheidung zwischen betrieblichen Ineffizienzen und erhöhten Kosten aufgrund der Versorgungspflicht. Die Defizitregelung des Kantons Appenzell Ausserhoden hat immerhin den Vorteil, dass sie nur den Mittelwert der Aufwandüberschüsse der Organisationen mit Versorgungspflicht entschädigt.
Über ein besseres Steuerungsinstrument verfügen jene Kantone, die (wie Jura und Neuenburg, aber auch das Fürstentum Liechtenstein) jährlich einen fixen Beitrag oder ein Kostendach für die Erbringung der Versorgungspflicht im Voraus festlegen. Die Spitex-Organisationen erhalten damit einen finanziellen Spielraum, um Vorhalteleistungen zu finanzieren, ohne jede davon akribisch definieren und mitteilen zu müssen. Sie müssen sich jedoch aufgrund der begrenzten Mittel bemühen, ihre Ressourcen möglichst effizient einzusetzen.
Die Mehrheit der anderen Kantone wenden leistungsbezogene Vergütungen an, am häufigsten in Form eines Zuschlags pro Pflegestunde. Der Kanton Bern zahlte 2015 zudem einen Betrag von Fr. 14.90 pro Jahr pro Einwohner im Versorgungsgebiet. Im Kanton Nidwalden wird ein Tageszuschlag für kurze Einsätze geleistet, der sich an der Zahl der Pflegeeinsätze orientiert, die weniger als 30 Minuten dauern. Im Kanton Thurgau werden Zusatzfinanzierungen für palliative Einsätze gewährt, sofern die Anbieter über die nötige Zertifizierung verfügen.
Natürlich sind auch diese leistungsbezogenen Vergütungen keine Garanten dafür, dass sich die unter der Versorgungspflicht angebotenen Leistungen am «Marktpreis» orientieren. Im Kanton Zürich, wo die Gemeinden für die ambulante Pflege verantwortlich sind, hat die Gesundheitsdirektion Transparenz über die Stundenkosten der Spitex-Organisationen mit oder ohne Versorgungspflicht und der selbständigen Pflegefachpersonen geschaffen. Die Gemeinden haben damit ein Instrument in der Hand, um das kantonale Kostenniveau abzuschätzen, die Effizienz ihrer Leistungserbringer zu prüfen und ihre Leistungsverträge allenfalls neu zu verhandeln. Im Kanton Solothurn haben die Gemeinden Grindel, Erschwil und Himmelried die Versorgungspflicht ausgeschrieben. So musste einerseits der Umfang der Versorgungspflicht genau beschrieben werden, und anderseits konnte so ein lokaler Marktpreis für diese Leistung ermittelt werden.
Weitere Informationen finden Sie in der Studie «Neue Massstäbe für die Alterspflege».