Strommangellage in der Schweiz? Tagelange, grossflächige Stromausfälle kennt man hierzulande höchstens aus Filmen oder dem Ausland. Doch dies könnte sich nun ändern. Im Extremszenario sässen Schweizer Haushalte bis zu zwanzig Tage im Dunkeln, und dies ausgerechnet im Winter, wenn man besonders auf Licht und Wärme angewiesen ist. Denn ohne Stromversorgung fallen nicht nur die LED-Leuchte, sondern auch die mit öffentlichen Geldern zu Tausenden installierten Wärmepumpen aus.

Nicht von ungefähr erachtet das Bundesamt für Bevölkerungsschutz (Babs) eine Strommangellage als grösstes Risiko für die Schweiz – dies gar vor einer Pandemie. Vom Schadensausmass käme laut dieser Analyse nur ein bewaffneter Konflikt teurer zu stehen. Der drohende Strommangel hat sich durch den russischen Aggressionskrieg zusätzlich akzentuiert, die Ausgangslage war aber bereits davor ernst. So rief der Bundesrat schon im Herbst 2021 rund 30’000 Unternehmen dazu auf, sich auf eine kommende Strommangellage vorzubereiten.

Grosser staatlicher Abdruck

Der drohende Energieengpass wurde nicht zuletzt durch fehlende staatliche Voraussicht verursacht. Dabei ist es gerade der Staat, der den Schweizer Strommarkt stark beeinflusst. Angebotsseitig aufgrund des hohen Anteils an öffentlichem Eigentum an den dominierenden Unternehmen wie Axpo, Alpiq, BKW, CKW, Repower und EOS. Ihre direkten oder indirekten Aktionäre sind mehrheitlich öffentliche lokale Energieversorger, Kantone und Gemeinden.

Nachfrageseitig können gemäss geltendem Gesetz erst grössere Stromkunden (Jahresverbrauch von über 100’000 kWh) ihren Anbieter frei wählen, Schweizer Haushalte und Kleinbetriebe warten seit 2014 auf die versprochene Liberalisierung. Damit beziehen 99% der Anschlüsse in der Schweiz ihren Strom zwangsweise vom lokalen Monopolisten.

Wasserkraft von «Alpen-Opec» blockiert

Nicht nur die Sicherstellung der Stromversorgung, sondern auch die Energiewende wird trotz üppig fliessender Subventionen verschlafen. Dabei lägen die Schweizer Trümpfe im europäischen Vergleich weder bei der Solar- noch bei der Windenergie, sondern in der Wasserkraft. Investitionen in Staudämme sind wirtschaftlich aber offenbar wenig attraktiv. Eine Ursache ist der seit über hundert Jahren erhobene Wasserzins. Der damit aufgebürdete Kostenblock macht bis zu einen Drittel der Produktionsausgaben aus.

Doch statt einer grundlegenden Reform, um die Wasserkraft kompetitiver zu machen, wurde die rechtliche Grundlage auf Druck der Bergkantone nicht nur verlängert, der Abgabesatz wurde sogar stetig erhöht. Inzwischen fliessen jährlich rund 550 Mio. Fr. in Form von Wasserzinsen an die Standortkantone und -gemeinden. Unabhängig davon, ob effektiv Strom produziert wird und zu welchem Preis dieser auf dem Markt verkauft werden kann. Die schweizerische Energiepolitik wird durch die Regionalpolitik in Geiselhaft genommen. Denn selbstredend sorgte die sogenannte «Alpen-Opec» auch dafür, dass die Einnahmen bei Festlegung des nationalen Finanzausgleichs nicht berücksichtigt werden – man rechnet sich also künstlich arm, um mehr aus dem nationalen Finanzausgleich zu erhalten.

Wettbewerbsfeindliche Rahmenbedingungen

Versorgungssicherheit? Energiewende? – Beides scheint zweitranging zu sein, wenn es darum geht, Geld für die eigene Region abzuholen. Damit nicht genug: Die Rentabilität der Wasserkraft wird durch Vorschriften über die Restwassermengen zusätzlich geschmälert. Dies vermindert die Menge des turbinierbaren Wassers – was die Höhe des Wasserzinses allerdings nicht verändert. Die Rahmenbedingungen des Schweizer Strommarktes sind wettbewerbsfeindlich, die Dynamik ist gering und Innovationen haben es schwer, sich durchzusetzen. Dabei bräuchten wir gerade jetzt mehr Ideen, um die Herausforderungen zu meistern.

Status quo führt in die Dunkelheit

Die Wahrscheinlichkeit einer Strommangellage spitzt sich aufgrund des fehlenden Strommarktabkommens mit der EU weiter zu. Die Energiepolitik ist durch den einseitigen Verhandlungsabbruch der Schweiz über ein institutionelles Rahmenabkommen (InstA) zum Kollateralschaden geworden.

So wurde die Schweiz erstens von den meisten technischen Koordinations- und Fachgremien ausgeschlossen. Die Abstimmung mit den europäischen Partnern ist deshalb schwieriger geworden – dabei ist die Schweiz mit 41 Grenzkoppelstellen das physikalisch in Europa am besten integrierte Land. Allein der politische Wille fehlt, sich gegenseitig vertraglich anzunähern.

In der Folge belasten bereits heute ungeplante grenzüberschreitende Stromflüsse das Schweizer Stromnetz. Handeln beispielsweise Deutschland und Frankreich Strom, fliesst ein Teil davon durch die Schweiz. Denn der physikalisch bedingte Weg des Stroms hält sich nicht an die theoretische, im Handel vereinbarten Route. Diese unerwarteten Stromflüsse machen jeweils sofortige Eingriffe des Übertragungsnetzbetreibers Swissgrid notwendig. Ohne diese wäre das Netz in der Schweiz nicht mehr stabil, Blackouts wären die Folge. Ob es auch in Zukunft gelingt, die Netzstabilität jederzeit aufrechtzuerhalten, ist offen, die Anforderungen steigen kontinuierlich. Kurzfristig gilt es deshalb, solche ungeplanten Stromflüsse durch die Schweiz durch bessere Absprachen und technische Vereinbarungen zu vermindern.

Mittelfristig – bis Ende 2025 – wird die Schweiz aus Sicht der EU definitiv zum Drittstaat. Bis dann müssen unsere Nachbarländer mindestens 70% ihrer Grenzkapazitäten für den Stromaustausch mit anderen EU-Ländern reservieren. Dies können sie nur einhalten, indem sie die Übertragungskapazität in die Schweiz beschränken. Insgesamt kann so mehr als dreimal weniger importiert und mehr als viermal weniger exportiert werden als heute. Unser Marktzugang ist damit stark eingeschränkt, und die Netzbetriebssicherheit gefährdet.

Vergessene Hausaufgaben

Die Liste der Schweizer Hausaufgaben im Energiebereich ist herausfordernd:

Erstens muss schnellstmöglich die Stromproduktion im Inland ausgebaut werden. Der volkswirtschaftlich teure, aber notwendig gewordene höhere Selbstversorgungsgrad muss gesteigert werden, insbesondere im Hinblick auf das Winterhalbjahr. Dies bedingt die Priorisierung des Zubaus vor anderen Zielen.

Zweitens braucht der Markt mehr Dynamik und Innovationen. Dazu gehört eine stufenweise Privatisierung der Stromkonzerne – verteilt über einen Zeitraum von z.B. zehn Jahren. Ausserdem ist der Markt vollständig zu öffnen, dies würde es neuen Akteuren mit ihren Lösungsansätzen ermöglichen, einzusteigen.

Drittens muss die Schweiz ihre Beziehungen zur EU wieder verbessern. Aus Sicht des Stromsektors ist das kurzfristige Ziel der Abschluss eines technischen Abkommens zur Stabilisierung unseres Netzes und zur Nicht-Anwendung der Grenzkapazitätsklausel auf die Schweiz. Mittelfristig steht die Unterschrift unter ein ausgewogenes Stromabkommen auf der Agenda, um die gleichberechtigte Teilnahme am EU-Binnenmarkt zu ermöglichen.

Die Schweizer Politik braucht im Strommarkt ihren «Mond-Moment». Versorgungssicherheit und Innovationen sind sicherzustellen «not because they are easy, but because they are hard, because that goal will serve to organize and measure the best of our energies and skills, because that challenge is one that we are willing to accept, one we are unwilling to postpone, and one which we intend to win.” (Präsident John F. Kennedy an der Rice University am 12. September 1962)

Sommerserie: Vergessene Reformen – Reformen zum Vergessen

In unserer diesjährigen Sommerserie erinnern wir an überfällige Reformen, die im politischen Prozess hängengeblieben sind – vergessene Reformen. Wir zeigen auf, wo und warum Avenir Suisse Erneuerungsbedarf ermittelt hat. Anderseits schwirren in der öffentlichen Diskussion auch immer wieder Vorschläge herum, die bisher zurecht nicht umgesetzt wurden. Wir erklären, weshalb es sich dabei um Ideen handelt, die möglichst schnell zu vergessen sind.