In der Schweiz ist die Einkommensungleichheit relativ gering – besonders, wenn man die Verteilung der Löhne betrachtet. Doch der Blick auf die Einkommensverteilung zu einem beliebigen Zeitpunkt hat ein entscheidendes Manko: Er ist eben rein statischer Art. So sagt die geringe Einkommensungleichheit wenig aus über das aus liberaler Sicht wohl wichtigste Verteilungskriterium: die Verteilung der Chancen. Gelingt jenen der «Klassenwechsel», die aus bescheidenen Verhältnissen starten?
Bei der Frage der intergenerationellen Mobilität musste man sich in der Schweiz bisher mit Anekdoten über die eine oder andere gelungene Tellerwäscherkarriere begnügen, oder bestenfalls mit «Anektdaten» – partielle Betrachtungen von lückenhaften Datenquellen.
Nun aber schafft eine neue Studie von Patrick Chuard und Veronica Grassi eine für unser Land bisher noch nie erreichte Transparenz. Die Forschenden der Universität St. Gallen verknüpften Lohndaten aus der AHV, Angaben zur familiären Situation aus den harmonisierten Einwohnerregistern und Elemente der Volkzählung zu Bildungsniveau und Wohnort. Sie erhalten somit ein präzises Abbild der sozioökonomischen Situation von fast einer Million Personen aus der Generation X, die zwischen 1967 und 1984 geboren wurden, sowie ihrer Eltern. Der Datensatz ist noch nicht perfekt: Es fehlen Angaben zu Zuwanderern und zum Einkommen aus dem Kapital. Letzteres macht aber weniger als ein Viertel aller Einkommen aus.
Das Resultat lässt sich sehen: Die Schweiz ist ein wahres Chancenland. Anders als die Vereinigten Staaten, die einst für den «American dream» berühmt waren, besteht in der Schweiz ein deutlich geringerer Zusammenhang zwischen dem Einkommen der Kinder mit jenem ihrer Eltern. Chuard und Grassi messen, dass hierzulande ein um 10 Prozent höheres Vaterseinkommen mit einem um 1,4 Prozent höheren Einkommen des Sohnes verbunden ist. In den USA sind es 4,5 Prozent. Im Durchschnitt verdient in der Schweiz ein Nachkomme im Alter um die dreissig mit einem Vater aus dem untersten Perzentil der Lohnverteilung jährlich nur 12’000 Franken weniger als ein gleichaltriges Kind mit einem Vater aus dem berüchtigten ersten Prozent der Lohnverteilung.
Entsprechend schwach ist die Beziehung zwischen der Position der Eltern in der Einkommensverteilung und jener ihrer Kinder. Rund 16 Prozent der Nachkommen von Eltern aus den obersten 20 Prozent (5. Quintil) der Lohnverteilung landen in den untersten 20 Prozent (1. Quintil), während rund 13 Prozent der Kinder aus Haushalten der untersten 20 Prozent das oberste Quintil erreichen.
Soweit die Ergebnisse zur relativen Einkommensmobilität, also zum Rang von Eltern und Kindern in der Lohnverteilung. Doch wie sieht es bei der (aus liberaler Sicht wohl wichtigeren) absoluten Mobilität aus? Verdienen die Kinder mit vierzig heute mehr als ihre Eltern, als sie vierzig waren? Bei diesem Aspekt spielt auch das Wirtschaftswachstum eine Rolle. Wenn alle Löhne stagnieren, ist die absolute Einkommensmobilität nicht gegeben, wenn auch die relative unverändert bleibt.
Doch so ist es nicht. In der Schweiz verdienen mit vierzig Jahren rund 54 Prozent der Söhne aus der Generation X mehr als ihr Vater im gleichen Alter, während rund 88 Prozent der Töchter ein höheres Einkommen als ihre Mutter erzielen. Hier zeigt sich die erhöhte Beteiligung der Frauen am Arbeitsmarkt. Dennoch verdienen immer noch nur 18 Prozent der Töchter mehr als ihr Vater, was wohl vor allem auf die weiterhin geringeren Pensen der Frauen zurückzuführen ist.
Insgesamt zeigt die Studie, dass der Schweizer Arbeitsmarkt keineswegs so statisch ist, wie dies von den Befürwortern zusätzlicher Umverteilung gerne gesehen und dargestellt wird. Unter den Industrienationen gehört die Schweiz zu den Ländern mit der höchsten – wenn nicht sogar der höchsten – Lohnmobilität. Einen wesentlichen Grund dafür orten die Autoren in der Durchlässigkeit des dualen Bildungssystems: Die relative Position der jüngeren Generation in der Lohnverteilung hängt nicht so sehr von ihrem Bildungsweg ab, obschon die Wahl des Bildungswegs sehr wohl vom Einkommensrang der Eltern abhängig ist. Nur für einen Zugang zur höchsten Einkommensklasse ist ein universitärer Abschluss von grossem Vorteil. Auch dies ist ein Attest für die Dynamik des Schweizer Arbeitsmarkt: Es zählt zuerst die Leistung, nicht die Herkunft.