Ein zentrales Problem im ÖV sind die grossen Nachfrageschwankungen und eine dadurch bedingte ungleichmässige Kapazitätsauslastung. Während Bahnen, Busse und Trams im Berufsverkehr von 7 bis 9 und 17 bis 19 Uhr überlastet sind, fahren sie in den langen «Talzeiten» weitgehend leer durch die Landschaft. Insgesamt liegt die Sitzauslastung der SBB bei nur 32% im Fern- und bei 20% im Regionalverkehr. Dies bedeutet: zwei Drittel bzw. vier Fünftel der Verkehrskapazität bleiben ungenutzt. Kein privates Unternehmen könnte sich eine derart extreme Ineffizienz erlauben. Beim ÖV jedoch zahlt die Zeche der Steuerzahler.
Für die ungleichmässige Auslastung werden sie gleich doppelt zur Kasse gebeten: Erstens werden wegen den Staus in den Spitzenzeiten immer wieder milliardenschwere Kapazitätserweiterungen vorgenommen – die dann nur drei bis vier Stunden pro Tag wirklich genutzt werden. Zweitens verursacht die niedrige Auslastung in den Talzeiten hohe Verluste. Dies ist eine Ursache dafür, dass der Eigenfinanzierungsgrad im Schweizer Bahnverkehr bei mageren 41% liegt. Mit anderen Worten: Drei Fünftel der gesamten Kosten werden vom Steuerzahler getragen und nur zwei Fünftel von den Nutzern.
In zahlreichen Branchen sind saisonale Tarife selbstverständlich
Nicht nur bei der Bahn gibt es das Problem von Nachfrageschwankungen und dadurch bedingter ungleichmässiger Kapazitätsauslastung, sondern auch im Strassenverkehr. Andere Branchen, die sich damit konfrontiert sehen, sind die Hotellerie und der Luftverkehr. Wenn man während der Hauptsaison ein Hotel bucht, zahlt man selbstverständlich einen viel höheren Preis als in der Nebensaison, und wenn man am Freitagabend ein Flugzeug besteigt, kostet dies in der Regel deutlich mehr als am Dienstagmittag. Niemand scheint Anstoss daran zu nehmen oder vom Staat zu erwarten, dass dieser aus Gründen der Fairness durch Subventionen die Preisunterschiede nivelliert. Paradoxerweise kritisiert niemand, dass Eltern schulpflichtiger Kinder, die in den Schulferien verreisen möchten, wesentlich höhere Preise für Ferien zahlen als Kinderlose. Hingegen wird als ungerecht betrachtet, dass Pendler zu Stosszeiten mehr zahlen als in den Randzeiten.
Bei Fluglinien gehört die Preisdifferenzierung zur Kernkompetenz
Am besten lässt sich die Kapazitätsauslastung über die Tarifstruktur steuern, und keine andere Branche hat dies so perfektioniert wie die Luftfahrtindustrie. Für sie ist die Auslastung eine Frage des Überlebens. Die meisten Carrier erreichen erst bei einer Sitzplatzbelegung von über 60% die Profitabilitätsschwelle («Break-Even»). Gut gemanagte Fluglinien kommen auf deutlich höhere Quoten. So betrug die Sitzplatzauslastung («Load-Factor») der Swiss im Jahr 2014 beachtliche 84% und damit zweieinhalbmal so viel wie jene der SBB im Fernverkehr.
Das in der Aviatik entwickelte Instrument zur Kapazitätsoptimierung nennt sich «Yield Management» (Ertragsmanagement). Ziel ist es, die Preise nach Zeit, Strecke, Kundenkategorie oder Serviceeigenschaften (z.B. das Recht, umzubuchen) derart zu differenzieren, dass die Kapazitäten optimal genutzt werden. Da die Fixkosten eines geflogenen Sitzplatzes hoch sind und die variablen Kosten, diesen mit einem zusätzlichen Passagier zu füllen, gering, gilt es, über Preisdifferenzierung eine maximale Sitzplatzauslastung zu erzielen und gleichzeitig die Durchschnittspreise auf einem Niveau zu halten, das auch die Fixkosten deckt.
Die Strategien der Fluglinien zur besseren Kapazitätsauslastung sind zwar nicht direkt auf Eisenbahnen oder andere ÖV-Systeme übertragbar. So werden etwa Airlines nicht von der Politik gezwungen, unprofitable Strecken oder Frequenzen anzubieten. Zudem muss man beim Flug ein Ticket im Voraus kaufen, der Zug dagegen bietet den Service eines flexiblen Einstiegs ohne Sitzplatzreservierung. Trotz solcher Unterschiede werden sich die Schweizer ÖV-Betreiber nicht dauerhaft der Logik einer Preisdifferenzierung verschliessen können, denn sie sind mit ähnlichen Fixkosten und Nachfrageschwankungen konfrontiert wie Fluglinien.
Auch die Bahnunternehmen anderer Europäischer Länder haben – zumindest im Fernverkehr – bereits erfolgreich den Weg hin zu differenzierten Tarifen beschritten. Bei der Deutschen Bahn liegt die Sitzplatzauslastung im Fernverkehr bei immerhin bei 52% und bei den TGV-Zügen in Frankreich gar bei 67%. Es ist also höchste Zeit, endlich auch im Schweizer ÖV den Schritt zu einer stärkeren Preisdifferenzierung zu wagen.
Mehr zu diesem Thema erfahren Sie in der Avenir-Suisse-Studie «Mobility Pricing: Wege zur Kostenwahrheit im Verkehr»