Anfang Juli veröffentlichte das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) den neusten Observatoriumsbericht zu den Folgen von 15 Jahren Personenfreizügigkeit. Der Befund: Obwohl Schweizer Unternehmen mit konjunkturellen Turbulenzen und dem starken Franken zu kämpfen haben, behauptet sich die Wirtschaft im internationalen Vergleich sehr gut. Seit 2002, dem Jahr der Einführung der Personenfreizügigkeit, konnte ein starkes Beschäftigungswachstum festgestellt werden: Die Erwerbstätigkeit hat um 22% zugelegt, die Erwerbslosigkeit blieb anhaltend tief. Eine Verdrängung Einheimischer durch die Arbeitsmigration hat nicht stattgefunden, die Zuwanderer waren eine Ergänzung zu den inländischen Erwerbspersonen. Das Bruttoinlandprodukt ist real um 29% gewachsen, pro Kopf um 12%. Auch die Reallöhne, quasi die individuelle Freizügigkeitsdividende, wuchsen seit Inkrafttreten der Personenfreizügigkeit jährlich um durchschnittlich 0,8%.

Ein Faktor des wirtschaftlichen Erfolgs ist die zunehmende Spezialisierung auf Waren und Dienstleistungen mit hoher Wertschöpfung. Damit einher geht ein steigender Bedarf nach qualifizierten Fachkräften. Dies betrifft zusehends auch KMU, die immer stärker in internationale Wertschöpfungsketten eingebunden sind. Die Beschäftigungszahl stieg daher in den vergangenen Jahren besonders stark bei den sogenannten wissensintensiven Dienstleistungsberufen, etwa in der Unternehmens- oder Rechtsberatung, in der Forschung und Entwicklung oder auch bei Architektur- und Ingenieurbüros. Da der einheimische Talentpool zahlenmässig zu klein ist, sind in diesen Branchen europäische Zuwanderer deutlich stärker vertreten als in anderen Bereichen.

Aufgrund ihrer hohen Spezialisierung ist die Schweizer Wirtschaft auch auf Arbeitskräfte aus dem Ausland angewiesen. (Bild Fotolia)

Aufgrund ihrer hohen Spezialisierung ist die Schweizer Wirtschaft auch auf Arbeitskräfte aus dem Ausland angewiesen. (Fotolia)

Die insgesamt positiven Auswirkungen der Personenfreizügigkeit, wie sie die aktuelle wissenschaftlich fundierte Untersuchung mit einer Datenauswertung von immerhin 15 Jahren aufzeigt, hat Reaktionen ausgelöst – auch kritische. Bei den in Tonalität und inhaltlicher Stossrichtung nahezu identischen Beiträgen in den Kommentarspalten der Onlinemedien wird insinuiert, dass ältere Schweizer Arbeitnehmer ab 55 Jahren durch jüngere Zuwanderer aus dem Arbeitsmarkt gedrängt werden. Fakt ist, dass ihre Erwerbslosigkeit im ersten Quartal 2017 bei 4,2 Prozent und damit tiefer lag als in allen anderen Altersgruppen.

Ein Kündigungsschutz für ältere Arbeitnehmende zu fordern, ist demnach kontraproduktiv. Unliebsame Wahrheiten, passen sie nicht ins Weltbild, werden verdrängt. Doch auch mit journalistischer Druckerschwärze wird bisweilen übers Ziel hinausgeschossen. Da wird als Ursache für das Kostenwachstum im Gesundheitswesen die Migration genannt, obwohl europäische Zuwanderer nur einen relativ geringen Anteil der Beschäftigten in diesem Sektor ausmachen und vor allem die hier ansässige Erwerbsbevölkerung vom Beschäftigungswachstum in der Gesundheitsbranche profitiert. Nicht wahrgenommen wird zugleich, dass es uns bis heute nicht gelungen ist, die steigende Anspruchshaltung aller Bevölkerungsgruppen, einheimischer wie zugewanderter, bei der Nachfrage nach medizinischen Leistungen vernünftig zu drosseln. Das vom Prämien- und Steuerzahler zu finanzierende Kostenwachstum geht munter weiter.

Bei der Diskussion um die Personenfreizügigkeit wird verdrängt, dass die Schweizer Wirtschaft auch gut läuft, weil sie sich (noch) auf Zuzüger aus europäischen Ländern abstützen kann. Das grösste Schweizer Pharmaunternehmen beschäftigt von den hierzulande über 10000 Angestellten weniger als einen Drittel Schweizer, über zwei Drittel sind Grenzgänger oder ausländische Staatsangehörige mit Wohnsitz in der Schweiz. Hier zeigt sich das helvetische Paradoxon. Man ist stolz auf die führenden Unternehmen und ihre bekannten Marken, will aber nicht wahrhaben, dass es zu deren Erfolg aufgrund des begrenzten einheimischen Arbeitskräftepotenzials auch Fachkräfte aus den europäischen Ländern braucht.

Dieser Artikel erschien am 17. 7. 2017 in der «Luzerner Zeitung».