Es wird politisch ausgebremst und idealisiert. So hat die Energiekommission des Nationalrates kürzlich beschlossen, am teilliberalisierten Strommarkt festzuhalten. Sie folgt damit dem Ständerat, der die vollständige Marktöffnung ebenfalls vom Ratstisch fegte. Damit wird ein bereits älteres politisches Versprechen gebrochen: Seit 2014 sollte die Wahl des Elektrizitätsversorgers für alle Nachfrager frei sein, doch bis heute ist dies erst für Grossverbraucher (ab 100’000 kWh pro Jahr) möglich. Alle privaten Haushalte und kleinen Gewerbebetriebe haben keine Wahl: Entweder sie akzeptieren den einmal jährlich im Voraus kommunizierten Strompreis ihres lokalen Elektrizitätsversorgungsunternehmens (EVU) oder sie verzichten auf den Strombezug.

Die Grundversorgung ist das Gegenteil von Freiheit

Seit Jahren wird also gebremst – «nume nid gsprängt». Die Rollen im zu Bern aufgeführten Theaterspiel sind dabei klar verteilt: In der Rolle des Bösewichts der freie Markt, in der Rolle des gütigen Sympathieträgers die Grundversorgung. In Nebenrollen: gierige Stromkonzerne (Jahresabschlüsse mit Milliardengewinnen!) und sich schützend vor die Konsumenten werfende Politiker. In der neuesten Aufführung des Stücks wird die Grundversorgung zur Freiheitskämpferin emporgehoben. Die Betriebe sollen das Joch des bösen Marktes abschütteln können, die Rückkehr ins Monopol, pardon: die Grundversorgung, verspricht die nötige Freiheit – so zumindest die absurde Ansicht des Gewerbeverbandes. Die Motivation dahinter: Die Betriebe sollen von den tieferen und fixen Strompreisen im Monopol profitieren. Denn der Spotmarktpreis ist in den letzten zwölf Monaten nicht nur stark angestiegen, er wurde auch volatiler. Vergessen geht dabei, dass die Situation vor rund sechs Jahren genau andersrum war: rekordtiefe Marktpreise, hohe Tarife in der Grundversorgung. Kein Betrieb wollte damals freiwillig zurück ins Monopol.

Zum Glück wurde dem Ansinnen des Gewerbeverbandes bislang nicht Folge geleistet, denn die kurzfristige Aufnahme eines Grossverbrauchers in die Grundversorgung hätte die Kosten mit etwas Verzögerung sozialisiert. Das liefernde EVU hätte sich gezwungen gesehen, die zusätzlich benötigte Strommenge am Markt zu beschaffen. Dies zu genau den hohen Preisen, vor denen der Grossverbraucher geflüchtet ist. Im Folgejahr hätten die EVU diese Kosten an alle Kunden weitergeben müssen. Eine solche Aktion wäre dem bereits angeschlagenen Image der Wirtschaft in weiten Teilen der Bevölkerung weiter abträglich gewesen.

Nicht weniger Probleme für Betriebe in der Grundversorgung

Damit ein Unternehmen in den letzten Monaten aufgrund der gestiegenen Strompreise im freien Markt wirklich in eine existenzbedrohende Lage gekommen wäre, hätte eine Vielzahl an Bedingungen kumulativ erfüllt sein müssen: Das Unternehmen bewegt sich im freien Strommarkt (Grossverbraucher), kauft Strom kurzfristig und nicht in Tranchen ein, kann die Stromnachfrage nicht rasch reduzieren, gibt einen substanziellen Anteil der Kosten für Strom aus, hat geringe finanzielle Reserven und kann die Kosten mittelfristig nicht tragen. Zusätzlich steht der Betrieb im internationalen Wettbewerb – die Konkurrenten verfügen dabei über tiefere Energiepreise – und die entstandenen Mehrkosten können nicht auf die Kunden abgewälzt werden.

Eine empirische Analyse des Amtes für Wirtschaft und Arbeit des Kantons Zürich kommt zum Schluss, dass weniger als ein Viertel der Unternehmen (gemäss eigener Deklaration) aufgrund der gestiegenen Energiepreise substanzielle Probleme hat. Dabei ist der Unterschied zwischen Betrieben, die ihren Strom am freien Markt einkaufen oder von ihrem Monopolanbieter beziehen, marginal. Mit anderen Worten: Auch Unternehmen in der Grundversorgung klagen ähnlich häufig über eine existenzbedrohende Situation. Die Untersuchung zeigt ebenfalls, wie die Unternehmen reagierten: Über 70% investierten in die Erhöhung der Energieeffizienz, 45% gaben die gestiegenen Kosten an ihre Kunden weiter (Mehrfachantworten waren möglich). Das Signal des Marktpreises dürfte in Sachen Energieeffizienz in den vergangenen Monaten mehr erreicht haben als Heerscharen staatlich besoldeter Energieberater in den letzten zwanzig Jahren. Die Umwelt dankt.

Grosse Spannbreite der Tarife in der Grundversorgung

Dass die Rollenverteilung «Bösewicht Markt» und «Heldin Grundversorgung» bei näherer Betrachtung nicht standhält, zeigt auch folgendes Beispiel: Die Spannbreite der Stromtarife für 2023 in der Grundversorgung reicht schweizweit von 8.49 bis zu 70.78 Rp./kWh. In einem funktionierenden Markt bzw. bei Wettbewerb wäre die Differenz zwischen den tiefsten und den höchsten Tarifen massiv geringer. Hat sich ein EVU bei der Strombeschaffung verkalkuliert, kann es die Mehrkosten bequem an die Kunden im Monopolbereich weiterreichen. Denn die meisten Versorger verfügen nicht über eine eigene Stromproduktion und müssen sich – meist in Tranchen – die benötigte Strommenge am freien Markt beschaffen. Somit hängen die meisten Kleinverbraucher auch im freien Markt, einfach indirekt und ohne die Möglichkeit, den Anbieter zu wechseln.

Dies ist besonders bitter, ja allenfalls gar ruinös, wie folgendes Beispiel zeigt: Die Gemeinde Worb (BE) wird von zwei EVU versorgt, der BKW und einer lokalen Genossenschaft. Nun scheint der lokale Betrieb zu spät Strom eingekauft zu haben, denn der den gefangenen Kunden weiterverrechnete Preis beträgt die bereits erwähnten 70.78 Rp./kWh. Die BKW beliefert ihre Abnehmer zu 26 Rp./kWh. Man stelle sich zwei Bäckereibetriebe vor, der eine auf der rechten Strassenseite im Versorgungsgebiet der BKW, der andere auf der linken Seite bei der lokalen Genossenschaft. Welcher Betrieb dürfte aufgrund der Energiepreise zuerst in substanzielle Schwierigkeiten geraten? Fazit: Die Grundversorgung ist ungerecht, denn man hat keine Wahl.

Erneuerbare Energie führt zu Fluktuationen im Stromnetz, die mit smarten Technologien geglättet werden könnten. Dafür braucht es ebenso smarte Tarifmodelle. (Nikola Johnny, Unsplash)

Die Marktöffnung unterstützt die Energiewende

Eine vollständige Marktöffnung würde nicht nur die Konsumentensouveränität stärken, sondern wäre auch eine wichtige Massnahme für die angestrebte Energiewende. Denn aufgrund des wachsenden Anteils fluktuierender erneuerbarer Energie wird eine Flexibilisierung des Konsums (sog. demand side management) als Beitrag zur Systemstabilität immer wichtiger. Voraussetzung dafür sind aber nicht nur smarte Technologien, die eine individuelle Steuerung grösserer Verbrauchsgeräte im Haushalt erlauben, sondern ebenso smarte Tarifmodelle. Letztere schaffen erst den Anreiz auf Stufe des Verbrauchers, seine Wärmepumpe dann laufen zu lassen, wenn die Strompreise während eines Tages tief sind. Mit der heutigen Struktur – im regionalen Monopol anbietende EVU mit fixen Tarifen für 365 Tage – ist eine intelligente Flexibilisierung des Konsums weder möglich noch bestehen die Anreize dafür. Dabei wäre ein stärker systemdienliches Verhalten aller Stromkonsumenten gerade bei einer Knappheitssituation im Winter wichtig.

Und immer wieder: unser Verhältnis zur EU

Zuletzt wäre die zweite Etappe der Marktliberalisierung in der Schweiz eine Grundvoraussetzung für ein Stromabkommen. Um am EU-Strombinnenmarkt teilzunehmen, muss die Schweiz gleich lange Spiesse schaffen, d.h. EVU aus dem EU-Raum müssten in der Schweiz anbieten können. Zurzeit sieht es nicht danach aus, dass die Schweiz die Voraussetzungen dafür schafft, geschweige denn – die zweite Hürde für ein Stromabkommen – eine institutionelle Lösung mit der EU findet. Dabei wäre eine Übereinkunft dringend nötig. Denn ab 2025 sollen die Grenzkapazitäten der EU zur Schweiz eingeschränkt werden, falls nicht genügend Kapazitäten für den Stromhandel zwischen den EU-Staaten zur Verfügung steht. Die Folge wäre in einem nicht unwahrscheinlichen Worst-Case-Szenario, dass die Schweiz an einem kalten und nebligen Wintertag keinen Strom mehr aus der EU importieren könnte. Nicht weil die Nachbarn selbst zu wenig Strom hätten, sondern weil der EU-interne Handel die Kapazitäten gegenüber Drittstaaten wie der Schweiz beschneidet. Mit einem Abkommen würde dieses Risiko substanziell gemindert.

Fertig mit dem Theater! Die Schweiz muss Gas geben und von idealisierten Mythen Abstand nehmen – die Versorgungssicherheit und die Energiewende hängen auch von der vollständigen Marktöffnung ab. Ohne sie wird es schwierig werden, auch wenn die Mehrheit der Politiker in Bern dies (noch) nicht wahrhaben will.