Venedig war 1766 fest in Bündner Hand. Wenigstens was die Zuckerbäcker betrifft: 38 von 42 Konfiserien gehörten Immigranten aus dem Puschlav oder dem Bergell. Schweizer Gewerbler wie Kaminfeger aus dem Misox vermochten sich auch im Wien des 18. Jahrhunderts zu behaupten. Selbst die Schweizer Agrarpolitik, die mittlerweile mit volkswirtschaftlichen Kosten in jährlich zweistelliger Milliardenhöhe zu Buche schlägt, war Teil der internationalen Verflechtungen. Exportschlager ist bis heute der Gruyère.

Vorreiterin der ersten Globalisierungswelle gegen Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 war die Schweiz. Unser Land wies die zweithöchste Exportorientierung in Europa auf, der begrenzte Binnenmarkt wurde mit der Expansion ins Ausland kompensiert. In den letzten 35 Jahren stieg der Aussenhandel von 61 Prozent auf über 120 Prozent des BIP. 1999 verdiente die Schweiz erstmals jeden zweiten Franken im Ausland, die Summe der Exporte entsprach 50 Prozent des BIP, heute liegt dieser Anteil bei 70 Prozent. Die internationale Vernetzung versinnbildlicht auch der rasante Anstieg der Direktinvestitionen, die seit 1985 real um den Faktor 24 zugenommen haben. Ende 2016 betrug der Bestand von Schweizer Direktinvestitionen im Ausland 1215 Milliarden Franken, jener von ausländischen Investoren in der Schweiz 965 Milliarden Franken.

Exportiertes Schweizer Know-how: Venezianische Pasticceria. (vug)

Wenn die Rütliwiese das Urschweizerische geografisch versinnbildlicht, besteht wirtschaftlich betrachtet das Urschweizerische in unserer Exportorientierung und der liberalen Grundhaltung zum Wettbewerb. Den Zugang zu den Märkten sichert ein dichtes Netz an internationalen Verträgen, jenen zum Markt vor der Haustür, der EU, die Bilateralen I. Die schweizerische Ausprägung der Globalisierung gewährleisten Freihandelsabkommen mit 70 Staaten sowie Investitionsschutz- und Doppelbesteuerungsabkommen. Damit kann dem Paradigma des Wettbewerbs nicht nur auf den drei innerstaatlichen Ebenen Gemeinde, Kanton und Bund nachgekommen werden, sondern auch auf der vierten, der internationalen Ebene. Doch diese liberale Bereitschaft zum freien Wettbewerb, von Friedrich A. Hayek als Entdeckungsverfahren bezeichnet, die alle Marktteilnehmer zu Verbesserungen zwingt, wird zunehmend in Frage gestellt. 

Dem föderalistischen Wettbewerb zwischen den Kantonen steht die Zentralisierungstendenz des Bundes gegenüber. Gleichzeitig gerät die globalisierte und europäisierte Schweizer Wirtschaftstätigkeit innenpolitisch unter Druck. Der Nationalkonservativismus zur Rechten vermählt sich mit dem gewerkschaftlichen Neokonservativismus der Linken. Die Furcht vor dem Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt einigt die gewerkschaftlichen Gruppierungen, die Gesamtarbeitsverträge mit den Allgemeinverbindlichkeitserklärungen und damit staatlich garantierten Mindestlöhnen voranzutreiben. Der Flexibilisierung des Arbeitsmarktes wird eine Absage erteilt, die Ausgestaltung der flankierenden Massnahmen scheint in Gotthard-Gestein gemeisselt. Ausländische Direktinvestitionen sollen neu durch staatliche Investitionskontrolleure darauf überprüft werden, ob sie die nationale Sicherheit tangieren. Auf der anderen Seite des politischen Spektrums wird das Gerüst an verlässlichen vertraglichen Regeln für den internationalen Wettbewerb kritisch beäugt, wenn nicht sogar offen bekämpft.

Die wirtschaftliche Offenheit der Schweiz ist einer der wichtigsten Pfeiler unseres Wohlstandes. Dennoch stellen wir wachsenden Argwohn gegenüber der Globalisierung fest. Anstatt Erneuerung und Weiterentwicklung heisst Bewahren der neue Mainstream. Doch Tendenzen zur Renationalisierung und die ausschliesslich nach innen gerichtete Logik würden die Schweiz aufgrund ihrer Wirtschaftsstruktur umso härter treffen. Vielleicht sollte in der ganzen Diskussion um die wirtschaftspolitische Ausrichtung der Schweiz an den Bündner Zuckerbäcker erinnert werden. Als liberal gesinnter Kleinunternehmer war er Teil einer internationalisierten Wertschöpfungskette, die bis heute Grundlage des Schweizer Wohlstands ist.

Dieser Beitrag ist am 22. 11. 18 im «St. Galler Tagblatt» erschienen.