Der Bundesrat zaudert in Sachen EU, und anstelle eines Entscheids zum Rahmenabkommen wechselt er immer wieder Personen in Schlüsselpositionen aus, zuletzt mit der Ernennung der erfahrenen Diplomatin Livia Leu zur neuen Chefunterhändlerin. Anlass genug für Avenir Suisse, in Zusammenarbeit mit der Schweizerischen Gesellschaft für Aussenpolitik (SGA) am 25. November 2020 eine digitale «Aula» zum Thema «Schweiz – EU: Wie lässt sich das Rahmenabkommen retten?» abzuhalten. Neben dem Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in der Schweiz, Michael Flügger, referierten Adrian Wüthrich, Präsident Travailsuisse, und Christa Markwalder, Präsidentin SGA und Nationalrätin der FDP.
Lohnschutz: Die Schweizer Lösung geht weiter als die der EU
Erwartungsgemäss nahm der Lohnschutz – eines der drei Themen, zu denen der Bundesrat offiziell eine «Klärung» sucht – breiten Platz ein. Für die Gewerkschaften argumentierte Adrian Wüthrich, dass die schweizerischen Massnahmen für die EU eigentlich akzeptabel sein müssten, da sich die EU seit Einführung der flankierenden Massnahmen (FlaM) durch die Schweiz mit ihrer Entsenderichtlinie in Richtung des Schweizer Lohnschutzes bewege. Ausserdem würden mittlerweile viele Mitgliedsländer einen weitergehenden Lohnschutz begrüssen. Sogar der Europäische Gewerkschaftsbund unterstütze das Schweizer Modell. Das duale Vollzugssystem mit Arbeitgebern und -nehmern sei europaweit einmalig und müsse beibehalten werden. Vielleicht sei dies auch ein Grund, weshalb der Arbeitgeberverband dem Rahmenabkommen kritisch gegenübersteht. Die Schweiz solle den Arbeitnehmerschutz autonom regeln können.
Ausserdem, argumentierte Wüthrich weiter, sei der Schweizer Ansatz des Lohnschutzes pragmatisch, es werde z.B. nur risikobasiert kontrolliert. Zusätzlich würden im Rahmen der trinationalen Kommission der Schweiz, Österreichs und Deutschlands immer wieder Lösungen gesucht und gefunden, um die achttägige Voranmeldefrist für grenznahe Unternehmen anzupassen. Die Gewerkschaften lehnten das vorliegende Rahmenabkommen auch deshalb ab, weil es aus ihrer Sicht de facto ein Assoziierungsabkommen mit der EU sei.
Gleichbehandlung der Marktteilnehmer im Binnenmarkt
Botschafter Flügger stellte fest, dass die EU der Schweiz mit dem vorliegenden Abkommen bereits sehr stark entgegengekommen sei. So würden einzelne Bestandteile der schweizerischen FlaM akzeptiert, die bisher im gemischten Ausschuss Gegenstand unterschiedlicher Ansichten waren. Den angestrebten «maximalen Lohnschutz» könne es aber nicht geben, die Regeln des Binnenmarktes liessen dies im Sinne einer fairen Gleichbehandlung der Teilnehmer nicht zu: «Einzelne Mitgliedsstaaten gucken mit Argusaugen zu.» Die Personenfreizügigkeit sei ein zentrales Element der Bilateralen, weshalb die EU den Lohnschutz nicht aus dem Abkommen herausnehmen könne. Die Europäische Kommission sei hier unmissverständlich und prinzipientreu.
Luxemburg, so Flügger weiter, weise im Verhältnis zur Schweiz mehr Grenzgänger und Entsandte aus, trotzdem sei das Lohnniveau in Luxemburg höher als im Umland. Es gebe keinen Lohndruck, im übrigen lasse der in der Schweiz beklagte Fachkräftemangel Lohndruck gar nicht zu. Es sei zu bedenken, dass ein Teil der Lohndifferenzen zwischen der Schweiz und den Nachbarländern auch durch den starken Franken begründet werde.
Für Christa Markwalder hat die Schweiz gut verhandelt, so habe beispielsweise das Schiedsgericht in den Vertrag aufgenommen werden können, ausserdem erstrecke sich der Geltungsbereich auf nur fünf bestehende Marktzugangs-Abkommen plus zukünftige. Die Rechtsübernahme erfolge dynamisch, aber nicht automatisch, bei Nicht-Einhaltung durch die Schweiz müssten die «Sanktionen» verhältnismässig sein. Die Verhältnismässigkeit wiederum werde durch das Schiedsgericht und nicht durch den Europäischen Gerichtshof beurteilt. Einen solchen Prozess gebe es für keinen EU- oder Efta-Staat im Binnenmarkt. Kurzum habe die Schweiz nicht abgenickt, was an Forderungen von der EU kam, sondern ihre Interessen würden im vorliegenden Rahmenabkommen gespiegelt.
Nicht auf die Briten warten
Botschafter Flügger stellte klar, dass die Schweiz von der EU kein Entgegenkommen erwarten könne, das über allenfalls zu treffende Lösungen mit dem Vereinigten Königreich hinausginge. Der Kernbereich des Abkommens, die 22 Artikel, würden seiner Ansicht nach nicht mehr angetastet werden. Aber im Anhang sei man Präzisierungen gegenüber offen. Er gab aber zu bedenken, dass die EU-Kommission zurzeit alle Hände voll zu tun habe: Neben dem Brexit stehen auch die Verabschiedung des EU-Budgets an sowie die Beilegung der Handelsstreitigkeiten mit den USA. Dies sei einerseits ein Glück für die Schweiz, weil der zeitliche Druck aus der EU gering sei. Andererseits drohe der Schweiz eine Erosion der bilateralen Verträge, die nicht mehr aktualisiert werden.
Christa Markwalder fasste zusammen, dass es für die Schweiz ein Fehler sei, das Verhandlungsergebnis des Vereinigten Königreichs abzuwarten. Die Ausgangslage sei dort eine andere: Die Briten befänden sich in einer Kampfscheidung und würden mit der EU pokern, während die Schweiz daran sei, einen Konkubinatsvertrag einzugehen. Der Brexit und das Rahmenabkommen fallen in eine ungünstige zeitliche Koinzidenz. Diese sei auch entstanden, weil die Schweiz in der Vergangenheit immer wieder zuwartete, statt vorwärtszumachen. Die Schweiz müsse nun endlich einen konkreten Zeitplan kommunizieren, sowie «weniger Briefe und mehr Treffen» des Bundesrates mit der EU anstreben. Die bisher hohe internationale Glaubwürdigkeit der Schweiz als Verhandlungspartnerin stehe auf dem Spiel, immerhin liege das fertig verhandelte Rahmenabkommen seit bereits zwei Jahren vor.
Die Uhr tickt: Es braucht nun Entscheidungsfreude
Der Ball beim Rahmenabkommen liege also beim Bundesrat. Es brauche endlich Entscheide und einen Zeitplan. Abzuwarten und zu hoffen, dass die Situation von allein besser werde, funktioniere nicht. Denn die Auswirkungen einer fehlenden Aufdatierung der bestehenden Verträge und die Blockade weiterer sektorieller Marktzugangsabkommen würden die Schweiz schleichend, aber immer deutlicher treffen. Zu denken sei an das «Mutual Recognition Agreement»: So werde die exportorientierte Schweizer Medtech-Branche das Ausbleiben der Aktualisierung als erste negativ zu spüren bekommen. Im Blick zu haben sei auch die Äquivalenz-Anerkennung unseres Datenschutzes oder die zukünftige Teilnahme unserer Universitäten und Hochschulen am Forschungsprogramm Horizon.
Auswahl an Studien zum Thema
Das Rahmenabkommen ist die Weiterführung des bilateralen Weges, ohne EWR oder gar EU-Mitglied zu werden. Es sichert den sektoriellen Zugang zum EU-Binnenmarkt und schafft Rechtssicherheit, ohne dass die Schweiz ihren «Sonderweg» aufgeben muss. Wichtig ist der Blick auf das Gesamtpaket sowie mögliche Alternativen.
Die oft genannte Aufdatierung des Freihandelsabkommens von 1972 würde der Schweiz nie den gleichen präferenziellen Zugang zum grössten Binnenmarkt der Welt schaffen, was auch bereits der Bundesrat in einer Studie festgehalten hat.
Grundsätzlich scheint das Volk pragmatischer zu sein als die Regierung und weiss das politische Getöse einzuordnen. So sind beispielsweise beim Lohnschutz gerade einmal 0,7% aller Schweizer Beschäftigten davon betroffen – was in etwa dem Personalbestand der SBB entspricht.