Vor einer Woche hat ein Avenir-Suisse-Bericht über das finanzielle Ausmass der «warmen Progression» für einiges Aufsehen gesorgt. Zurecht, denn obwohl der Basler FDP-Politiker Baschi Dürr das Phänomen der warmen Progression schon 2007 beschrieben (und bezeichnet) hat, sind deren Effekte der Bevölkerung bis heute weitestgehend unbekannt. Die warme Progression: Das ist der langsame Aufstieg der ganzen Bevölkerung in den Steuertariftabellen, verursacht durch das gesamtwirtschaftliche Reallohnwachstum.
Dass ein Haushalt bei einem Einkommenszuwachs, der ihn in der landesweiten Einkommensverteilung aufsteigen lässt, einen überproportionalen Anstieg der Steuerlast hinnehmen muss, ist gemeinhin akzeptiert, ja, im Sinne der Steuergerechtigkeit von der Stimmbevölkerung so gewollt. Das ist Sinn und Zweck eines progressiven Steuersystems: Wer mehr verdient, soll einen höheren Anteil seiner Einkünfte zur Finanzierung kollektiver Leistungen beitragen.
Dass aber dadurch auch das steigende Einkommen eines Haushaltes, der sich unverändert z.B. in der Mitte der Einkommensverteilung befindet, über die Zeit mit einem immer höheren Abgabesatz belastet wird, ist sachlich nicht zu rechtfertigen und auch nicht explizit so gewollt. Diese warme Progression führt also zu einem schleichenden Anstieg der Fiskalquote über die Zeit und unterläuft damit z.B. auch Bemühungen um die Begrenzung des staatlichen Fussabdrucks.
Doch nicht nur das: Die warme Progression führt – ironischerweise – auch zu einer Schwächung der Progressivität des Steuersystems. Weil immer mehr Haushalte in die höchsten Steuertarifklassen aufsteigen, sinkt der Anteil, den die ganz reichen Haushalte zum gesamten Steuervolumen beitragen. Die warme Progression wird also vor allem vom Mittelstand bezahlt, und sie führt dazu, dass das Steuersystem seine sozialpolitische Komponente – die Umverteilung von Reich zu Arm – immer weniger gut erfüllt.
Wenn aber diese eigentlich ungewollten Effekte der warmen Progression so augenscheinlich sind, warum wird sie dann nicht – genau wie die kalte Progression – ausgeglichen?
Sechs schlechte Argumente gegen einen Ausgleich:
Eine manuelle Korrektur ist jederzeit möglich.
In einem Bericht zuhanden des Bundesrates von 2017 wird suggestiv die Frage gestellt, warum «das Misstrauen in zukünftige politische Gestaltungsprozesse so hoch» sei, dass man einen Automatismus zur Korrektur der warmen Progression für nötig halte. Jederzeit könne eine Steuersenkung durch eine Initiative herbeigeführt werden, ein systematischer Ausgleich der warmen Progression sei deshalb unnötig.
Diese Argumentation ist so zynisch wie realitätsfremd. Unterschriftensammlungen und Abstimmungskämpfe sind mit hohen Kosten verbunden, ein Abstimmungskampf um eine allgemeine Steuersenkung dürfte sich zudem kaum entlang dem Phänomen der warmen Progression entfalten, und überhaupt negiert die Aussage die normative Macht des Status quo.
Die warme Progression wurde durch andere Steuervergünstigungen kompensiert.
Hinweisen zum Phänomen der warmen Progression wird entgegengehalten, in den vergangenen Jahrzehnten habe eine Zunahme bei den Steuerabzügen die warme Progression zu erheblichen Teilen kompensiert. So rechnet die Eidgenössische Steuerverwaltung vor, dass der Bund 2015 – aufgrund des Reallohnwachstums der vergangenen 20 Jahre – durch die warme Progression «nur» Mehreinnahmen von ca. 450 Millionen Franken erzielte. In diesen Schätzungen sind aber schon jegliche Veränderungen bei den Steuerabzügen (Verheiratetenabzug, Kindergutschrift, Kinderbetreuungsabzug, Obergrenze beim Zweitverdienerabzug) schon gegengerechnet.
Dass der Effekt der warmen Progression teilweise durch eine Erhöhung der Steuerabzüge kompensiert wurde, ist ein schlechtes Argument gegen dessen Ausgleich. Die gewährten – demokratisch legitimierten – Steuerabzüge beziehen sich stets auf ein spezifisches Anliegen in der politischen Debatte, sei dies der Zivilstand, die Kinderbetreuung oder die Arbeitsteilung im Haushalt. Erhöhte Abzüge sind somit kein Ausgleich der «warmen Progression», weder im jeweiligen Diskurs noch als systematischer Ansatz.
Ein Ausgleich der warmen Progression schränkt den finanzpolitischen Spielraum ein.
Vielsagend ist die abschlägige Antwort des Bundesrates auf eine vom FDP-Ständerat Andrea Caroni 2019 eingereichte Motion zum Ausgleich der warmen Progression. Der Bundesrat zitiert dabei weitgehend aus seinem Bericht zur Erfüllung einer Interpellation von 2014. Sie wirkt auf den ersten Blick thematisch deplatziert und wirr, entpuppt sich auf den zweiten Blick aber als im Hier und Jetzt manifestiertes Paradebeispiel aus dem Lehrbuch der politischen Ökonomie:
Der Bundesrat schreibt wörtlich:
Ferner würde ein automatischer Ausgleich der realen Progression das bestehende Steuersystem bzw. bestehende Ausgaben konservieren. Ursache hierfür ist, dass bei einem Ausgleich der realen Progression ein geringerer finanzpolitischer Spielraum für Änderungen des Steuersystems beziehungsweise der Aufgaben des Staates besteht. Beispielsweise müsste bei der Umsetzung von Steuerreformen stärker als heute darauf geachtet werden, dass diese aufkommensneutral erfolgen. Dies wiederum vergrössert die Anzahl der Verlierer einer Reform und somit die Wahrscheinlichkeit, dass diese im politischen Prozess scheitert. Hieraus folgt, dass mit der automatischen Beseitigung der realen Progression der Spielraum eingeschränkt würde, sich an wandelnde gesellschaftliche Verhältnisse anzupassen.
Ein Ausgleich der warmen Progression soll also den «Spielraum für Änderungen des Steuersystems bzw. der Aufgaben des Staates reduzieren». Was meint der Bundesrat damit genau?
«Änderungen des Steuersystems» passierten bisher fast durchgehend über neue Abzüge (die schon genannten oder z.B. Pendlerabzüge, usw.). Solche Abzüge sind nicht gratis. Entweder muss der Staat dieses Geld anderswo einsparen oder er finanziert sich diese Abzüge durch Steuererhöhungen anderswo. Nun stellt sich heraus: Es passiert genau zweiteres! Der Staat hat sich neue Abzüge schon über die – von der Öffentlichkeit unbemerkt – aufgelaufene warme Progression sozusagen vorfinanziert. Und nun kann sich die Politik für die Steuersenkungen zu Gunsten einer bestimmten Zielgruppe auf die Schultern klopfen (lassen), ohne dass sich die Bevölkerung bewusst wäre, dass dies letztlich auf Kosten einer allgemeinen Steuererhöhung für alle geschehen ist. Tatsächlich hat der Bundesrat recht, wenn er sagt, dass ein Ausgleich der warmen Progression «den Spielraum für Änderungen des Steuersystems» einschränkt – denn ohne das «Gratis»-Steuergeld aus der warmen Progression würde viel klarer werden, dass eine zur Rede stehende steuerliche Massnahme nicht nur Gewinner, sondern auch Verlierer hat. Diesen Effekt allerdings als Argument gegen den Ausgleich der warmen Progression einzubringen, wirkt schon etwas unverfroren.
Genau das gleiche gilt für die «Änderungen der Aufgaben des Staates» – wobei «Änderungen» hier als Euphemismus für «Ausbau» steht. Ja, dank den Zusatzeinnahmen aus der warmen Progression kann es sich der Staat einfacher leisten, zusätzliche Aufgaben zu übernehmen. Denn die Steuerzahler – und zwar allen voran der Mittelstand – haben diese schon vorfinanziert. Nur wissen Sie davon ziemlich wenig. Für ein Land, das sich für seine ausgeprägte direkte Demokratie und die fiskalische Äquivalenz rühmt, ist das wenig schmeichelhaft.
Drei weitere schlechte Argumente
In der gleichen Begründung zur Ablehnung der Motion wird auf das zweite wichtige Phänomen der warmen Progression, nämlich auf deren degressive Wirkung – also dass sie die relative Umverteilung von Reich zu Arm senkt – gar nicht erst eingegangen.
Des weiteren wird darauf verwiesen, dass u.a. schon die Schuldenbremse einen Beitrag gegen den Ausbau der Staatstätigkeit leiste. Dabei ist es ja genau die warme Progression, die die Wirkung der Schuldenbremse diesbezüglich aushebelt. Die Schuldenbremsen von Bund und Kantonen verhindern zwar einen systematischen Anstieg der Staatsschulden. Sie verhindern aber nicht, dass die Fiskalquote sozusagen automatisch mit zunehmendem Wohlstand steigt und steigt.
Und last but not least warnt der Bundesrat, die bevorstehende OECD-Steuerreform werde für die Schweiz zu deutlichen Steuerausfällen führen, und schlussfolgert: «Vor diesem Hintergrund erscheinen Steuerreformen, die keine relevante standortfördernde Wirkung zeitigen und bei welchen die Einnahmenbasis dauerhaft erodiert, derzeit nicht opportun.» Die Aussage ist gleich doppelt falsch: Zum einen werden aus der Umsetzung der OECD-Steuerreform (Mindeststeuersatz von 15% für grosse, internationale Unternehmen) nicht Minder-, sondern Mehreinnahmen erwartet. Zum anderen führt der Ausgleich der warmen Progression nicht zu einer Erosion der Steuerbasis, sondern er verhindert bloss ihren kontinuierlichen, überproportionalen, direktdemokratisch kaum legitimierten Ausbau.
Die politökonomische Logik der warmen Progression
Politik und die öffentliche Verwaltung profitieren also auf Kosten der Steuerzahler vom Spielraum, der durch die warme Progression entsteht. Weil sie sich in einem schleichenden Prozess erst über die Jahre kumuliert, wird sie kaum wahrgenommen, geschweige denn explizit ausgewiesen. Sie kann darum als eine Art Steuerillusion betrachtet werden. Zwar besteht keine Unkenntnis über den aktuellen Umfang der Steuerlast, aber es fehlt das Bewusstsein, dass sich die Steuerlast über die Zeit kontinuierlich erhöht – und die Staatseinnahmen entsprechend steigen. Das schafft politisches Kapital: Die Amtsinhaber können sich mit Steuersenkungen profilieren, die nicht etwa dank einer restriktiven Finanzpolitik oder guter Amtsführung möglich geworden sind, sondern allein wegen der warmen Progression aufgrund des Reallohnwachstums.
Dass Politik und Verwaltung deshalb bisher kein grosses Interesse an einem automatischen Ausgleich der warmen Progression – oder auch nur schon an der Schaffung von Transparenz bezüglich dieses Phänomens – gezeigt haben, kann kaum überraschen. Umso mehr ist es höchste Zeit, dies zu ändern!
Weiterführende Informationen finden Sie in unserer Analyse «Warme Progression».