Nach jahrelangem Kampf um bessere Arbeitsbedingungen für Pflegende hat der Ständerat jetzt die 2017 eingereichte Volksinitiative «Für eine starke Pflege» (Pflegeinitiative) behandelt. Braucht es im Gesundheitswesen mehr Personal und bessere Löhne? Jérôme Cosandey begründet im Gespräch mit Markus Brotschi (Tamedia) die ablehnende Haltung von Avenir Suisse.

Markus Brotschi: Dank dem grossen Einsatz des Gesundheitspersonals hat die Schweiz die erste Corona-Welle gut gemeistert. Am Mittwoch kann sich der Ständerat bei der Beratung der Pflegeinitiative erkenntlich zeigen und das Personal belohnen.

Jérôme Cosandey: Es herrscht in der Bevölkerung zu Recht grosser Respekt gegenüber dem Pflegepersonal und den Ärzten. Aber Anerkennung verdienen auch andere, die in der Krise eine wichtige Rolle spielten: das Verkaufspersonal in den Läden, Schalterpersonal oder Paketboten. Zugleich hat ein grosser Teil der Arbeitnehmer sehr flexibel reagiert, digital aufgerüstet und die Wirtschaft am Leben erhalten – oft unter der Zusatzverpflichtung des Homeschooling der Kinder.

Haben jene, die Leben retteten und Kranke pflegten, nicht besondere Verdienste?

In der Debatte über die Pflegeinitiative ist es wichtig, zu unterscheiden, welche Probleme krisenbedingt waren und was im Normalzustand nicht gut läuft. Ein Teil des Personals war in den letzten Wochen stark exponiert, jene, die direkt mit Corona-Patienten beschäftigt waren. Dann gab es aber andere, etwa in der Orthopädie, in Rehakliniken, die zu Hause bleiben mussten, weil der Bundesrat nicht dringende Eingriffe verboten hatte.

Einen Bonus für das gesamte Pflegepersonal lehnen Sie also ab?

Ja. Und nicht nur manche Pflegende oder Ärzte waren während der ersten Pandemiewelle exponiert, auch das Reinigungspersonal verdient grosse Anerkennung. Da muss sich jeder Arbeitgeber überlegen, wie er sich den einzelnen Zielgruppen gegenüber erkenntlich zeigt, ob mit einem Bonus oder zusätzlichen Ferientagen.

Ist die Pflegeinitiative die richtige Medizin gegen den Fachkräftemangel beim Pflegepersonal? (Marcelo Leal, Unsplash)

Die Urheber der Pflegeinitiative beklagen einen chronischen Personalmangel, der sich noch massiv verstärken werde. Die Schweiz bildet nicht mal die Hälfte des benötigten Personals aus. Ist es da nicht folgerichtig, wenn die Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen verbessert werden?

Ich habe meine Zweifel an diesen Prognosen. Da wird der Status quo genommen und daraus aufgrund der Bevölkerungsentwicklung der künftige Bedarf ausgerechnet. Dabei werden die Effizienzunterschiede in den Kantonen, die Zunahme von Spitex-Leistungen in der Alterspflege oder der technologische Fortschritt nicht berücksichtigt. Und es ist ja in der Schweiz bereits eine Ausbildungsoffensive im Gang. Trotzdem werden wir einen Teil des Personals nur im Ausland rekrutieren können, und dafür ist die Personenfreizügigkeit mit der EU so wichtig. Aber es liegt im Inland auch Potenzial brach.

Wo sehen Sie dieses? 

Ich nehme das Beispiel der Spitex. Dort beträgt der durchschnittliche Beschäftigungsgrad 43 Prozent. Natürlich mögen die tiefen Teilzeitpensen dem Wunsch vieler Pflegenden entsprechen. Aber wenn man im Spitex-Bereich fünf Vollzeitstellen besetzen will, muss man zwölf Personen anstellen. Sie müssen alle ausgebildet und rekrutiert werden – allenfalls im Ausland.

Zurück zur Pandemie. Diese hat uns vor Augen geführt, dass sich der Abbau von Spitalbetten rächt, wenn es zu einer solchen Gesundheitskrise kommt. Muss die Politik da nicht über die Bücher?

Ich befürchte, dass aus der Politik der Ruf nach mehr Personal und Betten kommt, weil das medienwirksam ist. Zum Teil sogar von den gleichen Leuten, welche die Anfang März eingereichte CVP-Initiative für eine Kostenbremse unterstützen. Tatsächlich aber hat die Schweiz im internationalen Vergleich viele Ärzte und Pflegende. Wir hatten in der Krise genug, ja zu viel Personal.

Wie kommen Sie denn darauf?

Für bis zu 20’000 Angestellte im Gesundheitswesen wurde Kurzarbeit beantragt. Der Staat als Regulator und als Spitaleigentümer muss dafür sorgen, dass die Durchlässigkeit innerhalb eines Spitals und innerhalb der Kantone verbessert wird. Es gibt dafür gute Beispiele. Der Kanton Zürich richtete eine Plattform ein, um Personal mit Kurzarbeit dorthin zu vermitteln, wo es gebraucht wurde. Andere Kantone wie Genf konzentrierten die Behandlung von Corona-Patienten in einem oder in einzelnen Spitälern.

Dann ist Ihre Krisenbilanz zum Gesundheitswesen positiv?

Das Schweizer Gesundheitswesen hat sich als krisenresistent und sehr flexibel erwiesen. Innerhalb weniger Wochen wurden die Kapazitäten auf den Intensivstationen um 60 Prozent aufgestockt. Wenn wir nun aber die Kapazitäten auf den Intensivstationen für mögliche Pandemien der nächsten fünfzig Jahre erhöhen, wird das extrem teuer. Es wäre besser, Pflegepersonal ergänzend so auszubilden, dass es im Pandemiefall auf der Intensivstation mitarbeiten kann, analog zur Betriebsfeuerwehr in den Industriebetrieben – statt die Armee aufzubieten.

Die Urheber der Pflegeinitiative sagen, dass viele aus dem Pflegeberuf aussteigen, weil sie emotional erschöpft seien. Deshalb brauche es nicht nur höhere Löhne, sondern auch mehr Personal. Leuchtet das nicht ein?

Für Kündigungen gibt es immer verschiedene Gründe. Wenn die Pflegenden dauernd das Gefühl haben, es fehle ihnen an Zeit für ihre Patienten, führt das sicher zu Unzufriedenheit. Dafür kann man nicht einfach generell den Personalmangel verantwortlich machen, manchmal liegt es auch an der Organisation und Bürokratie. Die Forderung nach mehr Personal stösst in der Bevölkerung auf viel Verständnis. Nur: Wir klagen auch darüber, dass Pflegeheime enorm teuer seien. Die Personalkosten machen dort 75 Prozent der Kosten aus. Wenn wir mehr Personal anstellen oder die Löhne erhöhen, werden die Pflegeheime noch teurer.

Die Pflegeinitiative fordert flächendeckend Gesamtarbeitsverträge fürs Pflegepersonal, mit denen die Arbeitsbedingungen verbessert werden.

Die Initiative geht den falschen Weg, der Bund sollte keine schweizweit gültigen Gesamtarbeitsverträge definieren. Grundsätzlich ist das Gesundheitswesen ein Arbeitnehmermarkt. Es gibt eine grosse Nachfrage nach Pflegepersonal. Da sind doch Arbeitgeber interessiert, dem Personal gute Arbeitsbedingungen zu bieten. Die Bedürfnisse sind sehr unterschiedlich, dezentrale Lösungen decken diese besser ab. Lassen wir den Wettbewerb spielen.

Zumindest ist die Gesundheitsbranche krisensicher.

Ja, man kann praktisch jederzeit die Stelle wechseln. Ich weiss von einer Pflegefachfrau, die sehr verärgert war, weil sie am ersten Schultag ihres Sohnes nicht frei erhielt. Deshalb kündigte sie. Eine andere gab für eine zweimonatige Reise ihre Stelle auf, obwohl sie dafür unbezahlten Urlaub nehmen könnte. Doch weil beide eben sicher sind, sofort eine neue Stelle zu finden, geht das. Hier sind Führungskräfte gefordert, attraktive Arbeitsmodelle anzubieten.

Interview: Markus Brotschi, erschienen am 10. Juni 2020 in den Blättern der Tamedia.