Ein kleiner, prosperierender Staat, der sich innerhalb seines Kontinents – mehr als ihm zum Teil lieb ist – zum Ressourcenmagnet entwickelt hat. Eine Willensnation. Ein Finanzzentrum von globaler Bedeutung. Eine multikulturelle Gesellschaft. Alle diese Beschreibungen passen sowohl für die Schweiz als auch für Singapur. Vor diesem Hintergrund organisierten Avenir Suisse und das Singapurer Institute of Policy Studies im Herbst 2013 einen ersten Gedankenaustausch in Singapur über Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden Kleinstaaten. Nun nahm Avenir Suisse den ersten offiziellen Besuch eines singapurischen Präsidenten in der Schweiz zum Anlass, um im «Centre for Global Dialogue» der Swiss Re im Rahmen eines Seminars Themen wie Staatliche Verwaltung, Zuwanderung und Stadtplanung zu vertiefen. Eine besondere Auszeichnung erfuhr der Anlass durch die zeitweilige Präsenz des Präsidenten von Singapur, Dr. Tony Tan Keng Yam, sowie zweier Minister.

Als Teilnehmer an dieser Tagung eröffnete sich einem vor allem dies: Dass es der Inselstaat in einem halben Jahrhundert vom Entwicklungsland in die Gruppe der zehn wohlhabendsten Länder der Welt geschafft hat, ist kein Zufall, sondern nicht zuletzt das Resultat einer visionären Führung. Und auch wenn dieser Top-down-Ansatz für die Schweiz nicht zur Diskussion steht, wirft der Erfolg von Singapur doch in mancherlei Hinsicht anregende Fragen auf:

1. Die Kraft von Visionen

Ein zentrales Politikelement in Singapur ist die regelmässige Definition von Zielen und die möglichst vorausschauende Planung. In den 1960er Jahren stand die Sicherung der Unabhängigkeit im Vordergrund, und man definierte die Schweiz, Finnland und Israel als Musterbeispiele. In den 1970er Jahren wurde der Fokus auf die Erhöhung des Lebensstandards für die breite Bevölkerung und die Beseitigung der Slums verlagert. Heute stehen die Alterung der Gesellschaft und der Umweltschutz im Zentrum. Mit dem «Sustainable Singapore Blueprint» will der Stadtstaat zum Vorreiter einer nachhaltigen Stadtentwicklung werden. Wäre es für die Schweiz nicht auch sinnvoll, eine eigene gemeinsame Vision zu entwickeln? Wäre das nicht auch in der direkten Demokratie möglich? Könnte und sollte man nicht vermehrt über die grobe Richtung, die das Land einschlagen sollte, abstimmen statt zunehmend über Verteilungsfragen?

Gruppenbild der Konferenzteilnehmer (Bild: Swiss Re Centre for Global Dialogue)

Gruppenbild der Konferenzteilnehmer (Bild: Swiss Re Centre for Global Dialogue)

2. Eine öffentliche Verwaltung wie ein Unternehmen

Singapurs Beamte gehören zu den bestbezahlten der Welt. Auf der Website der öffentlichen Verwaltung in Singapur sticht der Slogan ins Auge: «Integrity. Service. Excellence». Die Basis bildet ein jährliches Assessment, in dem die Zielerreichung geprüft, das persönliche Potenzial thematisiert und die etwas ungewohnte Frage gestellt wird: «Was hast Du für Dein Land getan?». Mit Rotation zwischen den verschiedenen Departementen wird versucht, den Blick des Einzelnen für das Ganze zu schärfen. Junge Begabte werden vom Staat durch Stipendien – auch für Studien im Ausland – gefördert, müssen sich aber im Gegenzug verpflichten, nach Abschluss des Studiums sechs Jahre im Staatsdienst zu arbeiten. Um den Jüngeren genügend Karriereperspektiven bieten zu können, müssen alle Chefs nach zehn Jahren ihre Posten räumen. Sollten auch in der Schweiz die staatlichen Verwaltungen stärker wie Unternehmen geführt werden? Müsste man jungen Beamten mehr Karrierechancen bieten? Und werden besonders gute Leistungen genügend gefördert und belohnt?

3. Migration als Wohlstandsgenerator

Die regionalen Einkommensunterschiede sind in Südostasien noch höher als in Europa. Dementsprechend steht Singapur unter einem starken Zuwanderungsdruck. Der Ausländeranteil an der Wohnbevölkerung ist seit 1990 von 10% auf 29% gestiegen. Auf einer Fläche, die nur halb so gross ist wie der Kanton Zürich, drängen sich heute 5,4 Mio. Menschen. Auch in Singapur fängt die Bevölkerung daher an, am Nutzen der Zuwanderung zu zweifeln. Von offizieller Seite wird aber das Bewusstsein, dass die Migranten einen wesentlichen Beitrag zum Wohlstand leisten, intensiv gepflegt, und die Integration wird durch gezielte Durchmischung in Schulen und Wohnquartieren gefördert. Welche Mittel und Wege gäbe es in der Schweiz, um die Integration von Migranten zu erleichtern und um das allgemeine Bewusstsein für den enorm wichtigen Beitrag der Migranten für die Gesellschaft zu schärfen? Gäbe es freiheitsverträgliche Möglichkeiten, der Ghetto-Bildung entgegenzuwirken und die Durchmischung zu verbessern?

4. Der Boden unter dem Diktat der Knappheit

Land ist in Singapur in besonderem Masse knapp. Der Staat muss neben Wohnraum auch Raum für Infrastruktur, Industrie und Militär bereitstellen. Interessant ist hierbei das Denken in vertikaler, horizontaler und zeitlicher Dimension: Hochhäuser sparen Grundstücksfläche, und durch Dachgärten kann der Anteil der Grünflächen erhalten werden. Nicht nur Infrastrukturen wie Wasser- oder Stromleitungen, sondern auch Strassen und Schienen werden zunehmend unter den Boden verlegt. Land wird mitunter dem Meer abgerungen. Wenn der Staat Grundstücke verkauft, geschieht es für 99 Jahre im Baurecht, um späteren Generationen Gestaltungsmöglichkeiten offen zu halten. Wird in der ebenfalls relativ dicht besiedelten Schweiz die Bedeutung der knappen Ressource Boden für die Entwicklung des Landes nicht unterschätzt? Sollte man nicht mittels Hochhäusern in den Städten Grünflächen erhalten und der Zersiedelung begegnen? Und brächte die breitere Anwendung des Baurechts nicht auch in der Schweiz Vorteile?

5. Umweltschutz durch Technik

Grosse Experimentierfreudigkeit legt Singapur im Bereich des Umweltschutzes an den Tag. Neben den klassischen Naturschutzreservaten – trotz der Kleinheit gibt es einen richtigen Regenwald im Stadtstaat – spielt die Technik eine grosse Rolle, für die schon erwähnte Begrünung grosser Gebäude, in der Energiegewinnung, bei der Sammlung von Regenwasser, oder auf einer Mülldeponie, die aufgrund ihrer hohen Biodiversität von US-Journalisten den Namen «Garbage of Eden» bekam. Wird in der Schweiz Umweltschutz nicht zu oft als reine Konservierung verstanden? Und paart er sich nicht fälschlicherweise mit Technikfeindlichkeit?

«Die Menschen sind alles, was wir haben», sagte ein Referent. Singapur ist ein eindrückliches Beispiel für die Kraft menschlicher Kreativität. Eine Prise mehr von solch mutiger Kreativität würde wohl auch der Schweiz gut tun.