Für Patrick Dümmler, Senior Fellow und Forschungsleiter Offene Schweiz, ist klar: Die Schweiz muss mehr eigenen Strom produzieren, um weniger von Stromimporten abhängig zu sein. Und: Langwierige Bewilligungsverfahren für erneuerbare Energien könne sich die Schweiz künftig nicht mehr leisten, wie er im Gespräch mit Energate sagt.

Energate: Herr Dümmler, die Eidgenössische Elektrizitätskommission (Elcom) geht davon aus, dass das Stromabkommen nach dem gescheiterten Rahmenabkommen für die nächsten Jahre vom Tisch ist. Kann es überhaupt im Sinne der EU sein, in diesem Bereich kein Abkommen mit der Schweiz zu schliessen? Der europäische Strom fliesst ja auch durch die Schweiz.

Patrick Dümmler: Nun, man muss anerkennen, wer am längeren Hebel sitzt: Im sich immer weiter integrierenden EU-Strombinnenmarkt können sich die einzelnen Staaten gegenseitig aushelfen bei Engpässen. Die Schweiz riskiert aufgrund der EU-Regelung zusehends abgehängt zu werden. Denn spätestens ab 2025 müssen im Minimum 70 Prozent der grenzüberschreitenden Kapazitäten für den Handel zwischen EU-Mitgliedstaaten reserviert sein.

Dies hat Folgen für unsere Stromversorgung. Es ist paradox: Mit 41 Grenzkoppelstellen ist die Schweiz wie kaum ein anderes Land aufs Engste physisch mit dem kontinentaleuropäischen Netz verbunden, gleichzeitig reisst auf politischer Ebene die Verbindung ab. Natürlich verlieren letztlich bei keiner Einigung beide Seiten, doch den Verlust der Schweiz schätze ich als höher ein.

Stausee Grande-Dixence. (Roland Zumbühl, Wikimedia Commons)

Sie schreiben in Ihrem Blog, die Schweiz solle ihre eigenen Stromproduktionskapazitäten ausweiten. Wie und in welchen Bereichen soll die Schweiz das tun?

Wir benötigen mehr eigene Stromproduktionskapazitäten, nicht nur aufgrund des erschwerten Verhältnisses zur EU, sondern auch weil wir weitere Teile der Wirtschaft – denken wir beispielsweise an die Mobilität oder die Wärmegewinnung – elektrifizieren wollen. Ein Ausbau könnte stattfinden bei den Wasserkraftwerken, der Rückgang der Gletscher schafft dafür neue Möglichkeiten. Ein Beispiel ist das Projekt eines Speichersees mit Kraftwerk beim Triftgletscher. Zusätzlich sind die Möglichkeiten der neuen Erneuerbaren zu nutzen und zu prüfen, ob wir für Belastungsspitzen – vor allem im Winterhalbjahr — nicht Gaskraftwerke benötigen.

Sie schreiben auch, die Bewilligungsverfahren müssten revidiert werden. Heisst das, es soll künftig weniger Einsprachemöglichkeiten geben?

Ja. Nehmen Sie das Hin und Her im langwierigen Bewilligungsverfahren für die Erhöhung der Grimsel-Staumauer. Wir werden uns so lange Verfahren in sehr naher Zukunft nicht mehr leisten können. Erstens weil es mögliche Investoren abschreckt, zweitens weil wir rasch mehr Elektrizität benötigen. Ohne Rahmen- und damit Stromabkommen ist der Druck auf eine Beschleunigung der Bewilligungsverfahren gestiegen.

Es ist stets ein Abwägen zwischen Natur- und Landschaftsschutz und den Anforderungen an eine Schweiz ohne fossile Energieträger. Die Schweiz wird ohne das Stromabkommen ihre Produktionskapazitäten stärker ausbauen müssen, weil wir uns weniger auf Stromimporte werden verlassen können.

Sie haben dafür plädiert, den Strommarkt vollständig zu öffnen und die Hürden für ausländische Investitionen in die Energieversorgung abzubauen. Wäre das nicht das falsche Signal ans europäische Ausland, zumal Schweizer Unternehmen ja aus dem Markt gedrängt werden, wie Sie geschrieben haben?

Wir müssen für Investoren in die Energieproduktion attraktiver werden – egal ob sie aus dem In- oder Ausland kommen. Zurzeit gehören die Hürden für ausländische Investitionen in die Energieversorgung der Schweiz seit Jahren zu den umfangreichsten unter den OECD-Ländern. Wir sollten nicht auf Nationalismen setzen, sondern etwas für eine sichere und zuverlässige Stromversorgung in der Schweiz tun.

Neben der Strommarktöffnung: Welche Schritte würden Sie der Schweiz im Umgang mit der EU empfehlen?

Wir müssen versuchen, auf technischer, später auch auf politischer Ebene Abkommen zu schliessen, die die Zusammenarbeit verbessern und den Marktzugang sicherstellen. In der Verantwortung ist der Bundesrat. Er hat entschieden, den bilateralen Weg nicht weiterzuentwickeln, was einer Sistierung und letztlich einer Erosion gleichkommt. Er steht nun in der Pflicht, eine ökonomisch gleichwertige Alternative aufzuzeigen. Bislang habe ich davon aber nichts gesehen oder gehört. Es wird für die Schweiz definitiv nicht einfacher werden.

Dieses Interview ist am 10.6.2021 im Energate-Messenger unter dem Titel «Die Schweiz wird ohne Stromabkommen ihre Kapazitäten ausbauen müssen» erschienen. Die Fragen stellte Michel Sutter, Energate-Redaktion Olten.