Hanspeter Frey: Herr Cosandey, vor einem Jahr hat das Stimmvolk Nein gesagt zur Altersreform 2020. Die langfristige Sicherung der Altersvorsorge ist in der Schwebe. Weshalb tut sich die Schweiz so schwer mit dem Thema?
Jérôme Cosandey: Sozialreformen sind immer schwierig, besonders im Bereich der Altersvorsorge. Bei einer Revision der Invaliden- oder der Arbeitslosenversicherung hoffen alle, dass sie nie betroffen werden. Man ist eher bereit, Leistungsanpassungen zu akzeptieren. Bei der Altersvorsorge ist es umgekehrt, alle möchten ein Leistungsfall – sprich Rentner – werden.
Wiegen wir uns in Sicherheit? Wie gefährdet sind unsere Vorsorgewerke wirklich?
Die AHV nimmt bereits weniger ein, als sie ausgibt, und in der zweiten Säule subventionieren die Aktiven mit je rund 1000 Fr. pro Jahr die Rentner. Anders als bei überfüllten Zügen oder verstopften Autobahnen spüren die Bürger den Handlungsdruck in der Altersvorsorge kaum. Trotzdem müssen wir die Entscheide heute treffen, um die Probleme von morgen zu vermeiden. Das ist für Politiker unattraktiv. Selbst wenn sie wiedergewählt werden, werden sie kaum die Früchte ihrer Weitsicht ernten können. Umgekehrt wird Nichtstun nicht bestraft. Das ist Gift für eine Reform, gerade ein Jahr vor Neuwahlen.
Welches ist das dringendste Problem, das es zu lösen gilt?
Dringend und wichtig sind die nachhaltige Finanzierung der AHV und die Herabsetzung des Mindestumwandlungssatzes im BVG. Dafür braucht es zusätzliche Mittel, aber auch strukturelle Massnahmen wie etwa die Anpassung des Rentenalters um einige Monate pro Jahr. Mittelfristig muss die Vorsorge auch der Situation der Teilzeitangestellten oder der Mitarbeiter mit mehreren Arbeitgebern besser entsprechen.
In welchem Sinn?
Diese Personen sind heute aufgrund von hohen Eintrittsschwellen, die nicht vom Arbeitspensum abhängen, schlecht in der beruflichen Vorsorge versichert und von Altersarmut gefährdet. Da tickt eine Zeitbombe.
Hat die Flexibilisierung der Altersgrenze vor dem Volk eine Chance? Die Politik meint, nein, in der Bevölkerung indes wächst die Einsicht, dass eine solche Lösung nötig und angemessen ist.
Man muss die Frage auch richtig stellen. Auch ich würde mit Nein antworten, wenn man mich lediglich fragte, ob ich länger arbeiten möchte. Lautet die Frage jedoch: «Wollen Sie lieber mehr Steuern und weniger Lohn oder eher einige Monate länger arbeiten und dafür gleichbleibende Leistungen beziehen?» Dann sieht meine Antwort anders aus.
Die Gegner sagen, ein höheres Rentenalter sei illusorisch, weil ältere Leute in der schlanken Wirtschaft von heute ohnehin kaum mehr beschäftigt würden. Stimmt das?
Es ist statistisch erwiesen, dass ältere Arbeitslose mehr Schwierigkeiten haben, eine neue Stelle zu finden. Aber die Statistik zeigt auch, dass ältere Mitarbeiter weniger häufig von Arbeitslosigkeit betroffen sind als jüngere. In Zahlen: Im Jahr 2017 zählte die Gruppe der Ü55 200‘000 Berufstätige mehr als 2011, und ein Viertel von ihnen hatte das Rentenalter 65 bereits überschritten. Die Wirtschaft beschäftigt somit sehr wohl ältere, meistens bisherige Mitarbeiter. Mit der Pensionierungswelle bei den Babyboomern erwarte ich eine Verstärkung dieser Tendenz. Der Widerstand gegen die Erhöhung des Rentenalters könnte auch reduziert werden, wenn man älteren Mitarbeitern den Übergang zur Pensionierung flexibel und sanft ermöglichte.
Was müssten Arbeitnehmer und Arbeitgeber dazu beitragen?
Der Dialog zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern ist sehr wichtig. Viele ältere Mitarbeiter trauen sich kaum, eine allfällige Pensumsreduktion anzusprechen, weil das in der älteren Generation oft als Zeichen fehlender Loyalität wahrgenommen wird. Umgekehrt meiden manche Vorgesetzte das Thema, weil sie fürchten, dass ihre Mitarbeiter dies als Aufforderung zur Pensionierung empfinden könnten.
Was wäre der Idealfall?
Wenn ein solches Gespräch systematisch, etwa anlässlich des 60. Geburtstags des Mitarbeiters, stattfände, wäre es Teil eines normalen Prozesses. Solche Standortbestimmungen sind mit jüngeren Mitarbeitern in Aus- oder Weiterbildung in vielen Unternehmen eine Selbstverständlichkeit. Hingegen sind solche Gespräche vor der Pensionierung seltener. Beim Umgang mit Senioren stecken wir noch in den Kinderschuhen.
Wie beurteilen Sie die Verknüpfung von Unternehmenssteuerreform und AHV? Werden so zukünftig Mehrheiten erreicht, auch in der Sozialpolitik?
Die Unternehmenssteuerreform ist absolut notwendig. Der Kuhhandel mit der AHV erscheint mir aber heikel. Wie sich der Staat finanziert und wie er die Vorsorge organisiert, sind Kernthemen, worüber die Bürger separat abstimmen müssen. Zudem umfasst die vorgeschlagene AHV-Lösung nur zusätzliche Einnahmen in Milliardenhöhe. Damit fällt der Druck für die nächsten fünf Jahre weg, die AHV strukturell zu reformieren, auf Kosten der nächsten Generationen.
Wo steht die Schweiz beim Thema Sicherung der Altersvorsorge in zehn Jahren?
Das hängt stark von der Ausgestaltung und vom Ausgang des AHV-Steuerdeals ab. Bleibt es bei einer reinen Zusatzfinanzierung der AHV, dann schieben wir die Probleme nur vor uns her, wie eine leere Cola-Dose. Aufräumen müssen unsere Kinder. Geht das Parlament die AHV- und die BVG-Reform wie ursprünglich geplant dezidiert und getrennt an, bin ich zuversichtlich, dass wir die finanzielle Stabilität beider Sozialwerke verbessern können. Das wäre ein wichtiger Zwischenschritt, um ab ca. 2025 neben den finanziellen auch die gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Altersvorsorge anzugehen.
Dieses Interview ist im Sonderbund «Vorsorge» vom September 2018 in der «Finanz und Wirtschaft» erschienen. Wiedergegeben mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.