Erfreut hat Mitte August das Staatssekretariat für Wirtschaft in der Schweiz Hochkonjunktur vermeldet. Die Volkswirtschaft ist über mehrere Quartale stark gewachsen, die Beschäftigung zieht an, die Arbeitslosigkeit schwindet. Für das laufende Jahr wird ein BIP-Wachstum von neu 2,9% erwartet. Glänzende Aussichten also? Sollten jetzt nicht die Früchte des Erfolgs genossen werden – sind diejenigen, die der Schweiz eine liberale Rezeptur zur Stärkung der marktwirtschaftlichen Rahmenbedingungen verschreiben wollen, realitätsferne Nörgler?
In einem bemerkenswerten Essay in der «Frankfurter Allgemeine» stellt Rainer Hank fest, uns gehe es mittlerweile derart gut, dass wir immer mehr so tun, als ob wir uns alles leisten könnten. Tatsächlich: Die Entwicklungen sind beeindruckend. Die globale Armut geht stetig zurück. Waren 1950 noch 2,2 Mrd. Menschen davon betroffen, sind es heute noch knapp 700 Mio. In Europa liegt die Lebenserwartung mittlerweile bei über 80 Jahren, die Kindersterblichkeitsrate beträgt in der Schweiz noch 0,4%. Weltweit haben die Einkommensunterschiede deutlich abgenommen, hierzulande sind die Einkommen deutlich gleichmässiger verteilt als in anderen Ländern.
Doch weil wir zunehmend dem Glauben verfallen, uns alles leisten zu können, nimmt die Umverteilung zu und sinkt die Bereitschaft für Veränderungen. Einige Beispiele? Trotz weltweit höchster Lebenserwartung wird das Pensionsalter in der Schweiz nicht erhöht, sondern die nachhaltige Finanzierung der Sozialwerke vertagt. Während reihum in Europa bald überall das Rentenalter 67 gilt, frohlockt der oberste Schweizer Genosse, eine Erhöhung des Rentenalters für Frauen sei vom Tisch. Zugleich wird von gewerkschaftlicher Seite ein Kündigungsschutz für über 50-Jährige gefordert, auch wenn Ältere weniger von Arbeitslosigkeit betroffen sind als Jüngere. Und jüngst hat sich der Nationalrat dafür ausgesprochen, die Milchkontingentierung wieder einzuführen. Damit wird die Restmenge an Markt in der Schweizer Agrarpolitik nochmals kleiner – und dies, obschon der Agrarprotektionismus schon heute jährlich 20 Mrd. Fr. an volkswirtschaftlichen Kosten verursacht.
Dass das Wohlstandsniveau in der Schweiz und in Europa deutlich höher liegt als noch zu Beginn der 1990er Jahre, ist die Folge einer ursprünglich breit abgestützten Liberalisierungsbewegung. Flugpreise sind gesunken, weil Wettbewerb eingeführt und Streckenmonopole aufgehoben wurden, das Telefonieren ist billiger, weil der Markt (teilweise) liberalisiert wurde. Mit Freihandelsabkommen wurde der Austausch von Waren und Dienstleistungen erhöht und mehr Wahlfreiheit geschaffen. Und die Aufhebung von Kartellen hat Kosten gesenkt und verkrustete Strukturen aufgebrochen.
Doch die Zufriedenheit mit dem Erreichten hemmt zunehmend den Fortschritt und die Ambition auf Veränderung. 29 Jahre nach dem Fall des Kommunismus stellen wir eine wachsende Skepsis gegenüber liberalisierten Märkte und einer weitergehenden Globalisierung fest. Die Vorteile eines Strommarktabkommens mit der EU werden kleingeredet, weil sich staatliche Eigentümer von oft defizitären Energiewerken vor einer Öffnung des Strommarktes fürchten. An der anachronistischen Staatsgarantie für Kantonalbanken wird nicht gerüttelt, der Steuerzahler darf weiterhin die Geschäftsrisiken «seiner» Bank mittragen. Geflissentlich sieht man darüber hinweg, dass die Zürcher Kantonalbank jüngst fast 100 Millionen Franken Bussgeld im Steuerstreit mit Amerika zu zahlen hatte und ist froh, dass es keine Milliardensanktion war. Gleichzeitig wird die Personenfreizügigkeit mit der EU in Frage gestellt, obwohl viele exportorientierte Unternehmen Mühe bekunden, Fachkräfte zu finden. Wohlfahrtssteigernde neue Freihandelsabkommen mit den USA oder den Mercosur-Ländern Südamerikas haben einen schweren Stand, weil der Agrarsektor mit seinem 0,7%-Anteil an der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung um seine Monopolrendite fürchtet.
Breiten Wohlstand gibt es aber nicht umsonst. In der erwähnten Seco-Konjunkturmitteilung wird die Exportwirtschaft als Impulsgeber für das Wirtschaftswachstum bezeichnet. Dazu braucht sie aber eine liberale Rahmenordnung im Landesinnern und Möglichkeiten zur Erschliessung neuer Potenziale im Ausland. Das Fraser Institute, eine kanadische Denkfabrik, hat es vorgerechnet: Länder mit den grössten Wirtschaftsfreiheiten haben im Durchschnitt ein sieben Mal höheres Pro-Kopf-Einkommen als diejenigen ohne liberale Rahmenordnungen. Im Mainstream des Reformstaus und der Umverteilung ist daher der liberale Stachel umso notwendiger.
Dieser Text ist am 9. Oktober 2018 in der «Luzerner Zeitung» und im «St. Galler Tagblatt» erschienen.