Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat die Ungleichbehandlung der Witwer und Witwen in der AHV kritisiert. Er hat aber nicht vorgeschrieben, wie die Schweiz die Diskriminierung beheben muss. Künftige, geschlechtsunabhängige Witwer- und Witwenleistungen müssen der heutigen Familienorganisation und Arbeitswelt sowie den gesellschaftlichen Entwicklungen der nächsten 50 Jahren besser gerecht werden.

Bei Todesfällen sind Männer den Frauen in der AHV nicht gleichgestellt. Witwer erhalten nur so lange eine Rente, wie sie minderjährige Kinder haben, Frauen hingegen lebenslang. Selbst Frauen ohne Kinder profitieren von einer Witwenrente, sofern sie das 45. Altersjahr vollendet haben und mindestens fünf Jahre verheiratet waren. Kinderlose Witwer gehen hingegen leer aus (Art. 24 AHVG).

Strassburg stellt nur Verstoss fest

Diese Ungleichbehandlung ist seit langem bekannt und wurde im Parlament oft adressiert. Doch die Thematik gewann an Aktualität, als der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg am 11. Oktober 2022 diese Ungleichbehandlung als Verstoss gegen das Diskriminierungsverbot bezeichnete (Causa 78630/12 Beeler v. Switzerland).

In seinem Urteil hat der EGMR dem klagenden Schweizer Witwer eine Genugtuung von 5000 Euro und die Rückerstattung der Gerichtskosten zugesprochen. Der EGMR rät dem Kläger, eine Revision seiner abgewiesenen Klage beim Schweizer Bundesgericht zu beantragen. Nicht mehr, nicht weniger.

Einen Anspruch auf eine Witwen-, bzw. Witwerleistung hat der EGMR dem Kläger nicht zugesprochen. Der EGMR schreibt in seinem Urteil der Schweiz auch nicht vor, wie sie die Ungleichbehandlung in der AHV beheben soll. Das ist auch richtig so. Unser Land kennt keine Bundesversfassungsgerichtbarkeit. Das heisst, das Bundesgericht legt zwar das Schweizer Recht aus, es kann jedoch keine Gesetze für ungültig erklären oder anpassen, wenn sie der Bundesverfassung widersprechen. Umso weniger hat eine internationale Instanz wie der EGMR diese Kompetenz.

Drei Wege zur Gleichbehandlung

Der EGMR-Entscheid muss rechts- und sozialpolitisch als Aufforderung verstanden werden, das Schweizer AHV-Gesetz so anzupassen, dass keine Ungleichbehandlungen mehr zwischen Witwern und Witwen besteht. Wie die neue und EMRK-konforme Regelung in der Schweiz ausgestaltet wird, kann und muss der Schweizer Gesetzgeber entscheiden. Versuchen wir eine erste Auslegeordnung:

Aus sozialpolitischer Sicht kann Gleichbehandlung für Witwer- und Witwenleistungen in der AHV auf drei Arten erreicht werden: Indem

  1. die Leistungen für Männer auf diejenigen für Frauen angehoben werden;
  2. die Leistungen der Frauen auf diejenigen für Männer reduziert werden;
  3. ein Mittelweg bestimmt wird, der für beide Geschlechter gleiche Leistungen sichert, der aber vom geltenden Recht abweicht.

Die erste Variante entspräche einem deutlichen Ausbau der Leistungen für Hinterbliebene. Bereits heute betragen die Witwen- und Witwerleistungen ca. 1,8 Milliarden Franken pro Jahr. Aufgrund der gesetzlichen Ungleichbehandlung werden allerdings 98% davon an Frauen ausgerichtet. Die Gewährung gleicher Leistungen für Männer und für Frauen würde längerfristig Hunderte von Millionen Franken kosten.

Auch nach dem Tod des Lebenspartners sollen Männer und Frauen gleichgestellt sein. Gemälde in der Kapelle von Versailles. (Adrianna Geo, Unsplash)

Die zweite Variante wäre die naheliegendste. Selbstverständlich braucht es Witwer- und Witwenleistungen, solange Waisen in Ausbildung sind. Nach dem Todesfall muss der überlebende Ehepartner, die überlebende Ehepartnerin sowohl finanziell als auch organisatorisch für die Kinder sorgen. Wo früher vier Schultern die zeitliche und finanzielle Belastung trugen, sind es nur noch zwei. Spätestens jedoch wenn die Kinder ihre Ausbildung abgeschlossen haben, kann sich der Witwer oder die Witwe wieder voll einer Erwerbsarbeit widmen. Eine Rente nach Ende der Ausbildung des jüngsten Kindes lässt sich kaum begründen.

Eine Witwer- und Witwenrente der Zukunft

Eine dritte Variante böte Gelegenheit, die Leistungen für Hinterbliebene an die Realität der Familienorganisation und der Arbeitswelt des 21. Jahrhunderts anzupassen: Auf die Witwenrenten für kinderlose Frauen wäre ganz zu verzichten. Es ist nicht einzusehen, warum eine Ehefrau, die keine familiäre Verpflichtung hat, von der Allgemeinheit im Todesfall des Ehemanns unterstützt werden sollte. Diese Vorstellung der «Ehe als Vorsorge» für kinderlose Frauen stammt aus der Einführung der AHV 1948 und entspricht einer überholten patriarchalen Weltanschauung. In den letzten Jahren haben die Schweizer Gerichte im Zusammenhang mit nachehelichen Unterhaltspflichten bei Scheidungen solche Familienmodelle immer stärker in Frage gestellt.

Mit einem Teil des eingesparten Gelds bei kinderlosen Paaren könnte eine Flexibilisierung der Witwer- und Witwenleistungen bis zum Ende des Studiums (z.B. bis zum 25. Lebensjahr) statt bis zur Volljährigkeit der Kinder finanziert werden – unabhängig davon, ob der Mann oder die Frau ablebt.

Die Leistungen könnten bei Haushalten mit jungen Kindern höher ausfallen, weil ihre engere Betreuung die Vereinbarkeit von Familie und Beruf erschwert. Sie könnten bei steigendem Alter der Kinder reduziert werden, weil der Witwer oder die Witwe vermehrt einer beruflichen Tätigkeit nachgehen könnte.

Eine solche Staffelung ist zum Beispiel bei der Zusprache von Alimenten nach einer Scheidung der Fall. Nach einem Entscheid des Bundesgerichts 2018 muss der hauptbetreuende Elternteil ab der obligatorischen Einschulung des jüngsten Kindes grundsätzlich zu 50% eine Erwerbsarbeit ausüben, ab dessen Eintritt in die Sekundarstufe zu 80% und ab seinem vollendeten 16. Lebensjahr zu 100%. Es sind Lebensabschnitte, nicht das Kinderalter, die hier massgebend sind. Eine Witwer- und Witwenlösung, die sich an die Praxis bei geschiedenen Ehepaaren anlehnt, wäre folgerichtig.

Mottenkugeln entsorgen

Spätestens mit dem EGMR-Entscheid ist der Handlungsbedarf bei der Behandlung der Witwer- und Witwen in der AHV klar. Das Austarieren der neuen Regelung wird eine öffentliche, wohl emotionale Debatte auslösen. Entsprechend müssen solche wegweisenden Entscheide im ordentlichen parlamentarischen Prozess getroffen werden.

Dabei ist es besonders wichtig, nicht einfach die alten Regelungen für die Witwenrente als Benchmark für die Witwer zu übernehmen. Diese stammen aus einer Zeit, als nur Männer das Stimmrecht hatten, und das Rollenbild des Mannes als Ernährer und der Frau am Herd vorherrschte. Von dieser Weltanschauung, die stark nach Mottenkugeln riecht, muss man Abschied nehmen. Vielmehr ist es wichtig, die heutigen Realitäten in der Familienorganisation und im Arbeitsmarkt besser abzubilden und eine – vom Geschlecht unabhängige – Witwer- und Witwenrente zu definieren, die auch die gesellschaftlichen Entwicklungen der nächsten 50 Jahren gerecht sein wird.