«Publica»: Die Gesellschaft hat sich seit Inkrafttreten des Gesetzes über die berufliche Alters-, Hinterlassenen und Invalidenvorsorge (BVG) 1985 stark gewandelt. Was galt damals, was gilt heute?

Jérôme Cosandey: Damals ging man von einer relativ linearen Standardbiografie aus. Mann und Frau heirateten und trennten sich selten. Wenn Kinder auf die Welt kamen, hat sich die Frau meistens aus dem Erwerbsleben zurückgezogen und sich dem Nachwuchs gewidmet. Der Ehepartner arbeitete weiterhin Vollzeit, stets beim gleichen Arbeitgeber bis zur Pensionierung.

Heute gibt es diese Lebensentwürfe auch noch, aber nicht nur. Die aktuelle Gesellschaft zeichnet sich durch viel mehr Vielfalt aus. Beinahe jedes zweite Ehepaar lässt sich scheiden. Dadurch entstehen viele alleinerziehende Eltern oder Patchwork-Familien. Auch beruflich hat sich viel verändert. Man wechselt den Job alle 5 bis 7 Jahre, und Frauen – aber auch Männer – arbeiten zunehmend im Teilzeitverhältnis.

Die Altersvorsorge ist schlecht auf diese individuellen Bedürfnisse und Biografien abgestimmt. Teilzeitarbeit wird aufgrund des Koordinationsabzugs in der 2. Säule bestraft. Die Anbindung der beruflichen Vorsorge am Arbeitgeber statt am Arbeitnehmer spiegelt noch eine überholte paternalistische Welt, wo sich der Arbeitgeber um seine Mitarbeiter von der Lehre bis zur Pensionierung kümmern musste und sich deshalb für sie verantwortlich fühlte.

Wie zukunftstauglich ist das angestrebte Ziel der 2. Säule, zusammen mit der 1. Säule ein Renteneinkommen von rund 60% des letzten Lohnes zu erreichen, heute noch?

An diesem Ziel würde ich nicht rütteln. Weil aber die Erträge an den Kapitalmärkten sinken, muss man, um dieses Ziel zu erreichen, entweder mehr Lohnbeiträge erheben oder länger sparen – sprich länger arbeiten. Heute schreibt jedoch das Gesetz alle drei Elemente vor: die Höhe der Rente mit Hilfe des Umwandlungssatzes, die Höhe der Beiträge mit den altersabhängigen Altersgutschriften und die Dauer der Beitragspflicht mit dem gesetzlichen AHV-Rentenalter. Die Rechnung kann somit nicht aufgehen. Deshalb entstehen jährliche systemwidrige Umverteilungen in Milliardenhöhe.

Ist die Schweizer Politik auf dem richtigen Weg mit der Altersreform 2020?

Die vor dem Volk 2004 und im Parlament 2010 gescheiterten Reformen der AHV sowie die deutliche Ablehnung der Reduktion des Umwandlungssatzes im Referendum von 2010 rufen nach neuen Ansätzen. Die Idee, die erste und die zweite Säule gemeinsam zu behandeln, hat Charme. Sie gewährt dem Bürger eine Gesamtsicht für seine Situation nach der Pensionierung und sie ermöglicht der Politik, säulenübergreifend Kompromisse zu finden.

Die Stärke einer solchen Gesamtlösung ist gleichzeitig ihre grösste Schwäche. Wird das Paket überladen, können sich viele kleine Gruppen von Reformgegnern vereinen, die zusammen eine Mehrheit gegen die Reform bilden können.

Übergangslösungen sind ein heikles Thema. Was ist eine Vorsorgeeinrichtung den älteren Arbeitnehmenden schuldig, was den jüngeren?

Lösungen für die Übergangsgenerationen sind eine Sache der Fairness. Wer kurz vor der Pensionierung steht, hat kaum die Möglichkeit, sich nach der neuen gesetzlichen Situation zu richten.

Die Woodstock-Generation hat bei der Reform der Altersvorsorge ein gewichtiges Wort mitzureden. (vug)

Solche Lösungen tragen aber auch der Tatsache Rechnung, dass die Wähler, die bald 65 Jahre alt werden – also die Generation der Babyboomer – zahlenmässig wichtig sind. Diese Wähler muss man für die Reform gewinnen, und Übergangsregelungen sind ein Mittel, diese Gruppe abzuholen. Das gesagt, sind Übergangslösungen mit Mass zu definieren. Grosszügige Abfederungsmassnahmen oder lange Übergangsfristen kosten viel und werden mehrheitlich durch die jüngeren Generationen finanziert. Hier darf der Generationenvertrag nicht überstrapaziert werden.

Gibt es (bei Avenir Suisse) völlig neue Denkansätze?

Die Altersvorsorgereform 2020 sichert primär die finanzielle Stabilität der ersten und der zweiten Säule. Das ist wichtig und dringend. Sie adressiert aber tiefe gesellschaftliche Veränderungen kaum. Auf den Koordinationsabzug sollte man verzichten, um Teilzeitangestellten eine bessere Vorsorge zu ermöglichen. Den sehr individuellen Lebensentwürfen und finanziellen Zielen soll besser Rechnung getragen werden. Mehr Wahl bei der Anlagestrategie und längerfristig sogar die freie Wahl der Pensionskasse für die Versicherten wäre eine mögliche Antwort dafür.

Gibt es Lösungen im Ausland, die beispielhaft sind?

Ja, viele Länder haben die Wahl der Anlagestrategie, ja sogar die Wahl des Leistungserbringers eingeführt, darunter Schweden oder Australien. Diese Länder schneiden in internationalen Rankings punkto Altersvorsorge sehr gut ab. Es heisst nicht, dass dort alles perfekt funktioniert. Von möglichen Konstruktionsfehlern aus diesen Ländern, zum Beispiel mit dem Risiko von Fehlberatungen, sollte man lernen. Es zeigt aber, dass man solche Entscheidungskompetenzen den Bürgern durchaus zutrauen kann.

Sie haben das Schlusswort…

Früher, im Zeitalter des «Stöckli», wurde Vorsorgen für das Alter sehr umfassend verstanden und deckte sämtliche Kosten bis zum Tod. Heute erwarten die Leute von ihrer ersten und zweiten Säule, dass sie ihnen die Fortsetzung der gewohnten Lebenshaltung in angemessener Weise ermöglichen, wie es im Art. 113 der Bundesverfassung formuliert ist. Dabei verstehen die meisten die Fortsetzung der gewohnten Lebenshaltung «bei guter Gesundheit». Doch Fragilität und Pflegebedürftigkeit gehören auch zum Lebensabend. Die Organisation und die Finanzierung der Alterspflege wird eine grosse Herausforderung für unsere Gesellschaft werden, die heute im Rahmen der Vorsorgedebatte leider viel zu wenig thematisiert wird.

Dieses Interview wurde in der Ausgabe 1/2017 des Magazins «Publica» publiziert. Wiedergegeben mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.