Rezepte zur Ankurbelung des Wachstums nach dem Covid-19-Lockdown kommen aus allen politischen Ecken. Teilweise werden mehr Grenzschutz und die Rückbesinnung auf das Inland gefordert. Doch es ist die Offenheit gegenüber der Welt, welche die Schweiz stark macht. In diesem Sinne bereitete der Bundesrat bereits 2018 eine Vorlage vor, die die einseitige Abschaffung der Zölle auf Industrieprodukten vorschlug.

Die Schweiz wäre damit nicht in einer Pionierrolle, denn mit Hongkong und Singapur verzichten bereits zwei Volkswirtschaften seit längerer Zeit auf Zölle. Die Abschaffung würde zu einem geschätzten Wachstumsbeitrag des Bruttoinlandproduktes (BIP) der Schweiz von 860 Mio. Franken führen. Nicht nur Konsumenten würden profitieren, ins Gewicht fällt auch die administrative Entlastung von Unternehmen, die Komponenten importieren und anschliessend das fertige Produkt wieder exportieren. Denn die Schweiz hat weltweit die komplexeste Zolltarifstruktur, was sich negativ auf die Wettbewerbsfähigkeit auswirkt.

Der wirtschaftliche Rückwärtsgang der Schweiz in den letzten Monaten und die negativen Aussichten wären Grund genug, die Vorlage möglichst rasch umzusetzen. Doch der Nationalrat entschied sich mit 108 zu 83 Stimmen, gar nicht erst auf den Vorschlag einzutreten. Bei einer Aussenhandelsquote (Importe und Exporte aller Waren und Dienstleistungen) von 96% des BIP ist unsere Volkswirtschaft für das Wachstum stark auf den Austausch mit dem Ausland angewiesen.

Handel mit anderen Ländern ist der Beschäftigungsmotor der Schweiz. Insgesamt waren 2019 die Arbeitsplätze von rund 1,9 Mio. Beschäftigten (entspricht 37%) direkt durch den Export gesichert, indirekt dürften es sehr viel mehr sein. Denn die im Export erwirtschafteten, in der Regel überdurchschnittlichen Einkommen führen zu höheren inländischen Investitionen und Konsum, von denen auch Hunderttausende Beschäftigte im binnenorientierten Sektor profitieren.

Während sich vergangene Krisen oft auf ein Land oder eine Region («Tequila-Krise» 1994/95, «Asienkrise» 1997/98, «Eurokrise» ab 2010) beschränkten, traf die Covid-19-Pandemie die ganze Welt. Zusätzlich wirkte der Schock auf die Volkswirtschaften beinahe gleichzeitig. Beide Charakteristika erschweren eine rasche wirtschaftliche Erholung aussenhandelsorientierter Staaten wie der Schweiz. Im Gegensatz zu früheren Krisen können Einbussen in einem Exportmarkt nur ungenügend durch das Wachstum in einem anderen Markt kompensiert werden.

Abbildung 1 zeigt die zehn Länder, in die 2019 am meisten Schweizer Waren und Dienstleistungen exportiert werden konnten. Es dominierten wie bisher die USA und Deutschland, sechs der zehn wichtigsten Exportmärkte lagen in der EU.

Die Pandemiekrise führt zu massiven Ausgabenerhöhungen mit öffentlichen Mitteln – auch mit ökonomisch fraglichem Inhalt. Um die Wirtschaft zu stimulieren, plant die EU mit ihrem Plan «Repair and Prepare for the next Generation» 1,9 Billionen Euro bereitzustellen, Deutschland sieht ein Konjunkturpaket in der Höhe von 130 Mrd. Euro vor. In mehrfacher Hinsicht stark betroffen ist Italien, denn die Folgen der Pandemie treffen auf ein Land, das bereits vorher wirtschaftlich unter Druck stand. Die Staatsverschuldung dürfte gemäss Internationalem Währungsfonds (IWF) auf 156% steigen. Bereits im März hat die EU-Kommission durch Anrufung einer Notfallklausel vorsorglich die Schuldengrenze ausgesetzt, die durchschnittliche Verschuldung in der EU wird gemäss Prognosen 2020 auf 95% des BIP ansteigen – ein Rekordwert. Dabei werden in vielen Ländern nicht nur die Ausgaben erhöht, sondern gleichzeitig sinkt auch die Wertschöpfung. Sowohl Zähler als auch Nenner entwickeln sich für eine gesunde wirtschaftliche Entwicklung somit in die falsche Richtung.

Unter den grossen Wirtschaftsnationen weisen auch die USA eine stark steigende Staatsverschuldung aus, 2020 soll sie 131% des BIP betragen. Weltweit rechnet der IWF Ende 2020 mit einer öffentlichen Verschuldung von 96% der Wirtschaftsleistung, gegenüber 83% im Vorjahr. Die USA steuern gemäss Schätzungen auf ein Rekorddefizit von 3.8 Billionen US-Dollar und in Chinawird der öffentliche Fehlbetrag erstmals 3% des BIP übersteigen.

Im Gegensatz dazu nimmt sich der prognostizierte Anstieg der öffentlichen Verschuldung in der Schweiz auf 46% des BIP vergleichsweise bescheiden aus. Ein wichtiger Grund ist das Instrument der Schuldenbremse, das Politiker in guten Jahren zwang, mit den Steuermitteln haushälterisch umzugehen und allzu grossen Begehrlichkeiten einzelner Branchen einen Riegel schob. Die Schweiz eine Insel der Glückseligen – mitten in einer überschuldeten Post-Pandemie-Welt?

Nein, denn die wirtschaftlichen Bremsspuren der weltweiten Pandemie zeigen sich bereits in den Daten des Schweizer Aussenhandels (vgl. Abbildung 2). Im Vergleich zur Vorjahresperiode gingen in den ersten vier Monaten 2020 die Schweizer Ausfuhren um 2,3 Mrd. Franken zurück, davon entfielen 1,6 Mrd. Franken auf die zehn wichtigsten Handelspartner. Es ist deshalb im Interesse der Schweiz, dass die wirtschaftspolitischen Massnahmen ihrer wichtigsten Handelspartner auf fruchtbaren Boden fallen.

Viele der eingeleiteten Massnahmen der Schweiz zur Abfederung der Pandemiefolgen unterstützen die Rückkehr zum Wachstum der Binnenwirtschaft. Die ökonomische Entwicklung könnte aber ergänzend unterstützt werden, indem die Schweiz ihre Rahmenbedingungen für die Aussenwirtschaft verbessert. Neben der Abschaffung der Zölle gehört dazu auch die Inkraftsetzung bzw. Unterzeichnung der Freihandelsabkommen mit Indonesien und den Mercosur-Staaten. Am bedeutendsten wäre ein Abkommen mit den USA – dazu müsste die Schweiz aber ihre Blockadehaltung gegenüber dem Agrarfreihandel aufgeben.

Wir haben es jetzt in der Hand, Voraussetzungen zu schaffen, dass die Schweizer Aussenwirtschaft bei einem Wiedererstarken der Weltkonjunktur rasch Tritt fasst, um Wertschöpfung und Arbeitsplätze im Inland zu schaffen. Die aktuellen politischen Reflexe zur Abschottung und Re-Nationalisierung erweisen einer starken Schweiz aber einen Bärendienst.