Bei der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen klaffen die theoretischen Ideale und die politischen Realitäten weit auseinander. Dies, obwohl sich (fast) alle einig sind: Eine zu starke Verflechtung von Aufgaben- und Finanzierungskompetenzen zwischen Bund und Kantonen gefährdet die Faktoren, die für einen gut funktionierenden Föderalismus nach Schweizer Zuschnitt essenziell sind. Neben der Subsidiarität, die Bürgernähe ermöglicht und damit die Zielgerichtetheit und Zweckmässigkeit von Investitionen fördert, sind dies:  

  • Fiskalische Äquivalenz: Deckungsgleichheit von Aufgaben- und Finanzierungsverantwortung – kurz: «Wer befiehlt, zahlt». Ist sie verletzt, erhöht sich die Gefahr einer suboptimalen Bereitstellung öffentlicher Güter. 
  • Fiskalische Eigenverantwortung: Die Ausgaben einer Gebietskörperschaft sollten so weit wie möglich über selbst generierte und gestaltbare Einnahmen finanziert werden. Empirische Studien weisen nach, dass zwischenstaatliche Transfers mit weniger Bedacht eingesetzt werden als eigene Steuergelder, und dass die Erhöhung von Transfers stärker ausgabentreibend wirkt als eine Zunahme der eigenen Steuerbasis. 
  • Klare, übersichtliche Kompetenzzuordnung: Ihr Fehlen ist nicht nur der Erfüllung der oben genannten Punkte abträglich, sondern begünstigt auch eine «Blaming»-Kultur: Wo den Stimmbürgern nicht mehr klar ist, wer für was verantwortlich ist, lädt das die Politiker dazu ein, bei Fehlentwicklungen die jeweils andere Staatsebene zu beschuldigen. Wirksame Staatskontrolle durch die Bürger kann nur bei klaren Verantwortlichkeiten ausgeübt werden.  

Dass im Rahmen unzähliger realpolitischer Einzelprozesse, die nicht aufeinander abgestimmt sind, eine schleichende Verflechtung (oder Zentralisierung) von Kompetenzen erfolgt, erstaunt nicht unbedingt. Störend daran ist aber, dass dies meist nicht aus föderalistischen Abwägungen heraus passiert, sondern auf Eigeninteressen oder taktischem Kalkül fusst. 

So hatte etwa der Zürcher Finanzdirektor Ernst Stocker angesichts möglicher bevorstehender Einnahmeausfälle der Kantone als Folge der Covidkrise vorgeschlagen, die Mehrwertsteuer temporär um einige Zehntel-Prozentpunkte zu erhöhen und die Kantone an den Mehreinnahmen zu beteiligen. Dabei ist die Mehrwertsteuer als Verbrauchssteuer schon seit jeher dem Bund zugeordnet. (Die erhöhten Ausschüttungen der SNB – auch sie nicht gerade ein Musterbeispiel föderalistischer Staatskunde – springen derweil finanziell in die Bresche).  

Ein anderes Beispiel: Durch die Anhebung des Gewinnsteuersatzes der Kantone auf 15% für Unternehmen, die unter das OECD-Regime fallen, generieren die Kantone Mehrerträge. Jetzt wird tatsächlich eine Diskussion darüber geführt, welchen Anteil daran die Tiefsteuerkantone an den Bund abtreten sollen. Verhandelt wird hier nach strategischen Gesichtspunkten im Sinne von: Unter welchen Bedingungen hat die Reform die grösste Chance auf politische Mehrheiten? Dass ein solcher Rücktransfer kantonaler Steuereinnahmen an den Bund jeglichen föderalistischen Prinzipien widerspricht und nicht im Geiste der bundesverfasslichen Bestimmungen ist, fällt da nicht weiter ins Gewicht.  

(Pascal Debrunner, Unsplash)

Bundesgesetz über die Finanzierung und den Ausbau der Eisenbahninfrastruktur (Fabi)

Als Paradebeispiel für ein realpolitisches Verhalten der Kantone, das allen Idealen zuwiderläuft, taugt die Neuordnung der Kompetenzen bei der Bahninfrastruktur:

Im Rahmen der 2003 bis 2005 diskutierten Bahnreform II wurde eine Entflechtung des Bahnnetzes in ein vom Bund finanziertes Grundnetz und ein von den Kantonen finanziertes Ergänzungsnetz angestrebt. Die inhaltlich plausibelste Definition des Grundnetzes hätte eine Dezentralisierung der Kompetenzen bedeutet. Das lehnten die Kantone ab, obwohl ihnen der Bund die Kostendifferenz als zweckgebundene Transfers zur Verfügung gestellt hätte. Das Grundnetz wurde daraufhin deutlich umfassender definiert. Trotzdem scheiterte die Vorlage in der parlamentarischen Beratung an dieser Frage.

Mit Fabi (Finanzierung und Ausbau der Bahninfrastruktur) wurde 2011 ein neuer Anlauf genommen. Vom Plan einer konsequenten Entflechtung hatte man sich verabschiedet, vorgesehen war aber zumindest eine ansatzweise Entflechtung nach funktionalen Kriterien: Der Bund hätte die Kosten für Bau, Unterhalt und Betrieb der Strecken übernehmen sollen, die Kantone die Kosten für Bau, Unterhalt und Betrieb der «Publikumsanlagen» (Bahnhöfe etc.). Auch diese Massnahme scheiterte in der parlamentarischen Beratung. Stattdessen übernimmt der Bund seit 2016 die Verantwortung für das gesamte schweizerische Schienennetz, inklusive der Bahnhöfe, während die Kantone ohne formales Mitspracherecht gesamthaft eine jährliche Pauschale von 500 Millionen Franken an den Bund entrichten. Von allen Varianten schien vielen Kantonen offenbar die Position als Bittsteller ohne eigene Verantwortung am liebsten.

Schon 2014 identifizierte der Bund im (vom Parlament in Auftrag gegebenen) Bericht Fabi als eine Vorlage, bei der sowohl die Einhaltung der Subsidiarität als auch die Einhaltung der fiskalischen Äquivalenz fraglich sei. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die Mehrheit der Kantone ausgerechnet diese Vorlage damals als «unter dem Gesichtspunkt des Föderalismus unproblematisch» bezeichneten und sie unterstützten. Noch absurder ist, dass die Kantone das Gesetz unterdessen (im Rahmen einer weiteren Überprüfung der Aufgabenteilung) ebenfalls hinsichtlich Verletzung der fiskalischen Äquivalenz kritisieren, allerdings eine komplette Abschaffung der Kantonsbeiträge zur «Lösung» des Problems vorschlagen.

Lähmende Angst vor Mehrbelastungen 

An der wachsenden Verflechtung und an Zentralisierungstendenzen sind die Kantone also wesentlich mitschuldig. Sie beurteilen die Aufgabenteilung gerne aus Kostensicht, was sie anfällig dafür macht, Kompetenzen abzugeben, wenn dies mit Vorteilen für ihren Finanzhaushalt verbunden ist.  

In der Realpolitik hat sich eingebürgert, dass die Neuzuteilung einer Aufgaben- bzw. Finanzierungskompetenz haushaltsneutral erfolgen muss. Eine Neuordnung der Aufgabenteilung hat ohne die Garantie einer «ausgeglichenen Globalbilanz» geringe Chancen. Von den Kantonen hört man sogar Kritik an unterschiedlichen Dynamiken (zwischen Bund und Kantonen) in der Kostenentwicklung bestehender Aufgaben. So gab ein Vertreter der Sozialdirektorenkonferenz vor einigen Jahren zum Besten: «Im Sozialbereich sind die dynamischen Bereiche den Kantonen zugeteilt worden. Die finanzielle Belastung ist (…) weiter steigend. Weitere Belastungen sind für die Kantone nicht tragbar.»  

Der Ausdruck «nicht tragbar» verkennt den Kern des schweizerischen Föderalismus in fast schon bösartiger Manier: Die Kantone finanzieren ihre Leistungen – so der (zunehmend erodierende) Grundgedanke – über ihre eigenen Steuereinnahmen. Führen bestimmte Sachverhalte zu erhöhten Ausgaben oder geringeren Einnahmen, besteht die Möglichkeit, sich zu verschulden, zu sparen oder die Steuern zu erhöhen – alles demokratisch legitimiert durch die kantonale Stimmbevölkerung. Auch wenn also beispielsweise Ernst Stockers Befürchtungen eintreten würden und die Kantone in den Covid-Folgejahren starke Einbussen spürten (im Finanzjahr 2021 ist weiterhin nichts davon zu sehen), kann das kein Anlass dafür sein, die kantonalen Steuereinkünfte mit zusätzlichen Bundestransfers zu ergänzen: Ihre Steuerhoheit erlaubt den Kantonen die nötigen Reaktionen – die sie allerdings vor ihren Stimmbürgern zu rechtfertigen hätten.  

Reform wird auf die lange Bank geschoben

Ein neuer Anlauf für eine systematische Entflechtung der Kompetenzen steht schon seit längerem im Raum, denn mit der Neuordnung der Aufgabenteilung und des Finanzausgleichs (NFA) im Jahr 2008 wurden Aufgaben und Finanzierungsströme weniger konsequent als geplant entflochten. Seither erhöhen die beschriebenen Prozesse die Unordnung, statt sie zu verringern. 

Avenir Suisse formulierte vor fünf Jahren in der Studie «NFA 2» Vorschläge für eine konsequente Entflechtung unter dem Primat der Subsidiarität. Die wichtigsten lauteten damals:    

  • Berufsbildung: Rückzug des Bundes auf eine Rahmengesetzgebung, Finanzierung vollständig in die Hände der Kantone.
  • Universitäten und Fachhochschulen (Finanzierung/Aufsicht) in die alleinige Verantwortung der Kantone.
  • Entflechtung der Ergänzungsleistungen entweder vollständig zum Bund oder vollständig zu den Kantonen.
  • Individuelle Prämienverbilligung in die alleinige Verantwortung der Kantone.
  • Trennung der Bahninfrastruktur in ein vom Bund zu unterhaltendes Grundnetz und ein von den Kantonen zu unterhaltendes Ergänzungsnetz.
  • Betrieb des öffentlichen Regionalverkehrs (Bestellung, Begleichung der Kostendeckung im Betrieb) in die alleinige Kompetenz der Kantone (bisher 50/50 zwischen Bund und Kantonen aufgeteilt).
  • Aufhebung der Globalbeiträge des Bundes an die Kantonsstrassen.
  • Aufhebung des Kantonsanteils am Netzbeschluss des Nationalstrassennetzes.
  • Kulturförderung nur durch Kantone und Gemeinden.

Diese Massnahmen wären (gestützt auf die damaligen Ausgaben) verbunden mit einer Verschiebung der Finanzierungslast im Umfang von 5 Mrd. oder 7,25 Mrd. hin zu Kantonen. Um sicherzustellen, dass der Bund seine Steuerlast im entsprechenden Umfang senkt, schlug Avenir Suisse einen automatischen Kompensationsmechanismus vor, der bei den direkten Bundessteuern ansetzt. Die genannte Lastenverschiebung käme einer Senkung der direkten Bundessteuern um etwa 19 bis 27 Prozent gleich. Wie stark die Kantone im Gegenzug ihre Steuern erhöhen würden, wäre ihnen überlassen. In diese Richtung scheint auch Ueli Mauer zu denken, reagierte er doch auf den erwähnten Vorschlag des Zürcher Finanzdirektors wie folgt: «Wir müssen eher in die Richtung gehen, dass der Bund die indirekten Steuern einzieht und die Kantone die direkten Steuern, also Einkommens- und Vermögenssteuern. Wenn schon, müsste man eine Verschiebung in diese Richtung machen.» 

Zwar wurde Anfang 2020 wieder ein Projekt für die Überprüfung der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen gestartet. Als besonders relevante Bereiche wurden die individuellen Prämienverbilligungen, die Ergänzungsleistungen, der regionale Personenverkehr sowie die Finanzierung und der Ausbau der Bahninfrastruktur identifiziert, also vier Bereiche, die auch Avenir Suisse 2017 nannte. Allerdings wird schon wieder die Haushaltsneutralität als «zentrale Voraussetzung» für die Aufgabenentflechtung bezeichnet und ein finanzieller Ausgleich zum Erreichen einer ausgeglichen Globalbilanz in Aussicht gestellt. Das Verweilen in diesem Status-quo-Denken wird wirklich konsequente Lösungen erschweren.  

Doch ob wir überhaupt in die Nähe einer – wie auch immer gearteten – Reform kommen, ist derzeit fraglich, denn das Projekt wurde im Frühjahr 2021 unter dem Eindruck der Covidkrise mit der Begründung einer «Prioritätenverschiebung» sistiert. In Aussicht gestellt wurde, dass sich Bund und Kantone ab Mitte 2022 bis zu einem Jahr für die Entscheidung Zeit nehmen, ob und wie die Aufgabenentflechtung weitergeführt werden soll. Nachdem Europa nun von der Covid- direkt in die Ukraine-Krise gestürzt wurde, liegt die Vermutung nicht fern, dass die Reform weiterhin auf die lange Bank geschoben wird.  

Das könnte sich langfristig rächen. Denn der kleinteilige Föderalismus der Schweiz bringt nicht nur Vorteile. Er bietet grosses Potenzial, doch die starke Dezentralisierung und Fragmentierung der Schweiz macht es umso wichtiger, dass diese komplexe Struktur gut organisiert ist und die Anreize im Umgang mit Steuergeldern richtig gesetzt sind. Eine ungünstige Ausgestaltung könnte dazu führen, dass die potenziellen Nachteile des Föderalismus in der statischen Betrachtung (Kleinheit, Koordinationskosten) die potenziellen Vorteile in der dynamischen Betrachtung (Wettbewerb, Entdeckungsverfahren) überwiegen. 

Sommerserie: Vergessene Reformen – Reformen zum Vergessen 

In unserer diesjährigen Sommerserie erinnern wir an überfällige Reformen, die im politischen Prozess hängengeblieben sind: vergessene Reformen. Wir zeigen auf, wo und warum Avenir Suisse Erneuerungsbedarf ermittelt hat. Anderseits schwirren in der öffentlichen Diskussion auch immer wieder Vorschläge herum, die bisher zurecht nicht umgesetzt wurden. Wir erklären, weshalb es sich dabei um Ideen handelt, die möglichst schnell zu vergessen sind.