Beim Thema Föderalismus rollen Herr und Frau Schweizer zurzeit genervt die Augen. Wie unter einem Brennglas hat die Krise die guten und schlechten Seiten des dezentralen Staatsaufbaus zum Vorschein gebracht. Während die einen darin die Ursache eines ungenügenden Krisenmanagements sehen, hat der Bund in den Augen der anderen den föderalen Geist der Schweiz arg beschädigt, wenn nicht begraben. Jedenfalls dürfte der Föderalismus im Bewusstsein der Bevölkerung selten so präsent gewesen sein.
Wird die «Aufgabenteilung II» eingestellt oder abgebrochen?
Dieser Debatte liesse sich grundsätzlich viel Gutes abgewinnen, ist die Frage der optimalen Kompetenzverteilung doch keinesfalls auf Krisenzeiten beschränkt. Nun droht der öffentlichen Aufmerksamkeit aber die Rückkehr zum präpandemischen Niveau, als mit dem Thema Föderalismus kaum ein Blumentopf zu gewinnen war. Und dies ausgerechnet unter erheblicher Mithilfe von Bund und Kantonen: Im Frühjahr 2021 geben Bundesrat und die Konferenz der Kantonsregierungen (KdK) bekannt, dass das im Januar 2020 gestartete Projekt «Aufgabenteilung II» vorerst sistiert werde. Dieses hätte eine Überprüfung der Verantwortlichkeiten namentlich in den Bereichen der individuellen Prämienverbilligungen, der Ergänzungsleistungen, des regionalen Personenverkehrs sowie der Finanzierung und des Ausbaus der Bahninfrastruktur zum Ziel gehabt.
Als Begründung dient Bund und Kantonen die Corona-Pandemie und die damit verbundene Verschiebung der Prioritäten. So verständlich die Erklärung angesichts der erhöhten Arbeitsbelastung in Politik und Verwaltung ist, umso ratloser wird der Leser der Medienmitteilung zurückgelassen, was das weitere Vorgehen betrifft. Beim Entscheid handelt es sich nämlich nicht unbedingt um eine vorläufige Einstellung, sondern der Abbruch des Projekts steht offen im Raum. Ab Mitte 2022 wollen sich Bund und Kantone bis zu einem ganzen Jahr Zeit für die Beantwortung der Frage nehmen, ob und wie die Aufgabenentflechtung weitergeführt werden soll.
Wenig ambitionierte Politik
Ist es allein der Pandemie geschuldet, dass der Zeitpunkt für eine Revision der Aufgabenteilung heute weniger «günstig» ist als im Sommer 2019? Klar ist, dass Bund und Kantone mit dem wenig ambitionierten Zeitplan ein fragwürdiges Zeichen gesetzt haben. Zudem erhärtet sich der Eindruck, die Politik im Allgemeinen und die kantonalen Entscheidungsträger im Speziellen bevorzugten den Status quo in Form zunehmender Verbundaufgaben und dem daraus resultieren Vollzugsföderalismus gegenüber der konsequenten Ausmarchung (und damit auch Übernahme) der Zuständigkeiten.
Die politische Degradierung der NFA II schmerzt aus liberaler Sicht auch deshalb, weil mit dem Willen zur Entflechtung ein – gerade für die Nach-Corona-Zeit wichtiges – Signal für einen effizienten Staat einherginge. Die ökonomische Forschung hat wiederholt gezeigt, dass der Wettbewerbsföderalismus den Staat zu höherer Effizienz bei der Bereitstellung öffentlicher Leistungen zwingt.
Die Zweifel über das weitere Schicksal des Projekts nähren weitere Fragen zur Zusammenarbeit von Bund und Kantonen, die nur unter Vorwegnahme politischer Realitäten überhaupt zu Stande kam. So vereinbarten die Projektpartner, dass eine Neuzuteilung der Aufgaben «haushaltsneutral» erfolgen soll, also ohne einseitige Lastenverschiebung zu den Kantonen oder zum Bund. Wie soll in Zukunft eine Aufgabenentflechtung gelingen, wenn nicht einmal ein Vorgehen zum Erfolg führt, das bereits in der vorparlamentarischen Phase auf politische Absicherung bedacht ist?
Föderalismus bleibt unter Druck
Vor diesem Hintergrund wäre eine konsequente Aufgabenreform in den vom Projekt identifizierten Bereichen trotz Haushaltsneutralität ein Erfolg und würde dem föderalen System etwas Luft verschaffen. Stattdessen droht sich nun der Vollzugsföderalismus – im Kleid der vertikalen Gewaltenteilung – weiter zu akzentuieren. Eine intensiv geführte Debatte zur Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen hätte diese nicht allein aufgehalten.
Doch die Sistierung der «Aufgabenteilung II» ist eine verpasste Chance. Hat die Bevölkerung das Interesse an diesen staatspolitisch bedeutenden Fragen einmal verloren, ist die Ausgangslage eine gänzlich andere. Wie eine Umfrage vor einigen Jahren ergeben hat, fühlt sich nur eine Minderheit mit dem Föderalismus verbunden. Stattdessen dominiert in der Bevölkerung eine verbreitete Indifferenz gegenüber dem dezentralen Staatsaufbau. Unter diesen Umständen dürfte eine Vermittlung der empirisch belegten Vorteile des schweizerischen Wettbewerbsföderalismus gegenüber anderen existierenden Staatsstrukturen – etwa erhöhte wirtschaftliche Leistungsfähigkeitund ausgeglichenere individuelle Einkommensverteilung – schwierig sein. Das Brennglas hat eben auch sein Gutes.
Weiterführende Informationen zum Thema finden Sie in unserer 2017 erschienenen Publikation «NFA 2 — Für die Revitalisierung des Schweizer Föderalismus».