«Dem Kanton Tessin läuft die junge Bevölkerung davon.» Dies könnte man zumindest befürchten, wenn man sich die Zahlen zur Binnenmigration anschaut. Die Alterskohorten unter 44 Jahren weisen alle eine deutliche Nettoabwanderung auf (vgl. Grafik).
Die Gründe hierfür sind vielschichtig. Eine wichtige Rolle spielt die begrenzte Grösse des Tessins als Wirtschaftsraum und Arbeitsort. Folglich sind gewisse Branchen weniger stark vertreten als andere, was die Abwanderung je nach Berufsinteresse und Fähigkeiten begünstigt. Auch das höhere Lohnniveau in anderen Landesteilen hat einen Einfluss.
Besonders auffallend ist, dass der Kanton mit 27 % die schweizweit dritthöchste gymnasiale Maturitätsquote aufweist. Auch wenn das Tessin mit der USI (Università della Svizzera italiana) über eine eigene Universität verfügt, verschlägt es viele Maturandinnen und Maturanden für das Studium in einen anderen Kanton, wo sie dann auch oft bleiben.
Dies liegt unter anderem daran, dass sich die USI auf fünf Fachrichtungen spezialisiert hat (Architektur, Wirtschaft, Kommunikation, Informatik und Biomedizin). Für die Fachhochschule SUPSI (Scuola universitaria professionale della Svizzera italiana) gilt Ähnliches. Die Berufsmaturitätsquote ist mit 21 % im Tessin überdurchschnittlich hoch, die SUPSI bietet jedoch nicht alle Fachbereiche an.
Auch wenn dieser «Brain-Drain» die Ressourcenbasis schmälert und für politische Diskussionen sorgt, zeigt er nur eine Seite der Medaille: Die Nettozuwanderung ins Tessin ist dank Zuzügern aus dem Ausland (aber auch Grenzgängern) positiv, und die Binnenabwanderung wird de facto überkompensiert, wobei es sich durchaus um qualifizierte Fachkräfte handelt.
Auffallend ist auch der hohe Anteil ausländischer Studentinnen und Studenten an der USI. Obwohl Studierende ohne Vorbildung im Inland doppelt so hohe Studiengebühren bezahlen und damit einen wichtigen Beitrag an die Fixkosten leisten, beträgt der Ausländeranteil rekordverdächtige 62 % (auch an der SUPSI sind es verhältnismässig hohe 25 %).
Der Hochschulraum Tessin profitiert von der Nähe zu Mailand und von den Defiziten des italienischen Hochschulsystems. Diese Faktoren ermöglichen es den Tessiner Hochschulen, ihre relativ hohen Studiengebühren durchzusetzen. Faktisch betreiben sie damit erfolgreich Bildungsexport, wobei der Standort Tessin trotzdem auch von den ausländischen Absolventen profitiert. In diesem Zusammenhang müssten sich die Hochschulen überlegen, ob für ausländische Toptalente die finanziellen Bedingungen im Ausnahmefall nicht gelockert werden sollten. Der «Brain-Gain» zugunsten des Kantons Tessin könnte damit noch optimiert werden.
Dieser Beitrag ist unter dem Titel «Brain-Drain» und «Brain-Gain» im «avenir spezial» zum Tessin vom Dezember 2017 erschienen.