Ist es nicht riskant für die Schweiz, Industriepolitik zu betreiben?

Die Risiken und Nachteile einer Industriepolitik sind zahlreich. So sind staatliche Hilfen an einzelne Firmen oder eine Branche unfair. Zum einen verschaffen sie diesen einen ungerechtfertigten Wettbewerbsvorteil, zum anderen müssen die Kosten von anderen getragen werden. In der Schweiz wird derzeit diskutiert, den «energie­intensiven» Firmen einen Teil der Netzkosten zu erlassen. Diese Kosten verschwinden aber nicht, sondern müssen durch andere Firmen sowie die Konsumenten getragen werden, die dann höhere Strompreise zahlen müssen.
Die nun diskutierten Subventionen sind zudem ineffizient und ineffektiv, da sie die strukturellen Probleme der Stahlindustrie nicht lösen werden. Oft werden einmal eingeführte Subventionen immer wieder verlängert, was Unternehmen langfristig von Subventionen abhängig macht.

Warum ist eine Industriepolitik langfristig schädlich für die Schweizer Wirtschaft?

Der Anteil der Schweizer Industrie an der Wirtschaftsleistung beträgt 18% und ist damit etwa doppelt so hoch wie in Frankreich oder Grossbritannien. Dies, weil die hiesige Industrie dem internationalen Wettbewerb ausgesetzt ist und sich deshalb immer wieder neu erfinden muss. Die Produktivität in der Schweizer Industrie hat sich seit dem Jahr 2000 verdoppelt. Kein anderes OECD-Land kann solche Produktivitätsgewinne in diesem Sektor vorweisen. Und dies, obwohl die Schweizer Industrie in dieser Zeit grosse Herausforderungen wie den Frankenschock bewältigen musste. Industriepolitik untergräbt diese Erfolge, weil sie den Strukturwandel verzögert und Abhängigkeiten schafft.

Würde eine Schliessung der Stahlwerke nicht den CO2-Ausstoss erhöhen, weil im Ausland weniger umweltfreundlich produziert wird?

Nein, die Umweltkosten einer Verlagerung der Stahlproduktion ins grenznahe Ausland dürften gering sein. Das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) rechnet mit einem zusätzlichen Ausstoss von 300’000 Tonnen CO2, wenn Stahl Gerlafingen schliessen muss. Das entspricht etwa 0,7 Promille der Treibhausgasemissionen, die in der Schweiz ausgestossen werden. Werden auch die Importe berücksichtigt, sind es noch 0,3 Promille. Auch die Auswirkungen der zusätzlichen Transporte auf den Ausstoss von Treibhausgassen dürften laut Aussagen des Seco im Promillebereich liegen.

Wie können wir unsere Klimaziele erreichen, wenn ein ganzes Segment der Kreislaufwirtschaft in der Schweiz verlorengeht?

Es ist für das Erreichen der Klimaziele nicht entscheidend, ob die Schweiz ganze Bereiche der Kreislaufwirtschaft innerhalb der Landesgrenzen halten kann oder nicht. Im Gegenteil: Die Kreislaufwirtschaft darf sich nicht auf eine arbiträr gezogene Grenze wie jene einer Gemeinde, eines Kantons oder eines Landes beziehen. Recycling sollte vielmehr dort stattfinden, wo die ökologischen und ökonomischen Kosten am niedrigsten sind. Das kann im Kanton Solothurn, in der Waadt oder zum Beispiel in der französischen Region Grand-Est sein, die an die Schweiz angrenzt.

Haben Sie Beispiele dafür, dass sich Subventionen an Schweizer Unternehmen kontraproduktiv ausgewirkt haben?

Subventionen für einzelne Unternehmen in Form von A-fonds-perdu-Direktzahlungen sind in der Schweiz selten – die Covid-Pandemie und die Landwirtschaft einmal ausgenommen. Während des 20. Jahrhunderts prägten jedoch industriepolitisch motivierte Preisabsprachen und Marktabschottung bedeutende Teile der Schweizer Wirtschaft.
Leidvolle Erfahrungen machte etwa die Uhrenindustrie. Zum Schutz von Arbeitsplätzen und Unternehmen beschloss der Bund in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen Strauss an Verboten und staatlichen Kontrollen. Diese Massnahmen zementierten die Strukturen der Branche auf Jahre hinaus. Als Folge verlor sie ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit. Als Anfang der 1970er-Jahre die Quarz-Technologie aufkam, kam es zur grossen Krise. Es gingen Zehntausende Arbeitsplätze verloren. Bis weit in die 1980er Jahre litt die Uhrenindustrie unter den Folgen dieser Strukturbereinigung. Erst ein kompletter Rückzug des Staates ebnete wieder den Weg für private Initiativen, und ein Revival der Schweizer Uhrenbranche setzte ein.

Der Bund hat die Credit Suisse gerettet. Warum sollte man dann nicht auch die Stahlindustrie und ihre Arbeitsplätze unterstützen?

In einer Marktwirtschaft muss Scheitern möglich sein. Deshalb war die Anwendung von Notrecht und das Sprechen von Staatsgarantien im Falle der CS hoch problematisch. Um das zu verhindern, hat die Politik nach der Finanzkrise 2008 umfassende Massnahmen ergriffen. Im März 2023 entschied sich der Bundesrat wegen der Gefahr systemischer Effekte – und nicht der Rettung der Arbeitsplätze bei einer Bank – jedoch einmal mehr zu einem Staatseingriff.
Daraus kann aber nicht der Schluss gezogen werden, dass jede Firma und jede Branche gerettet werden muss. Ausserhalb des Finanzsektors können in der Regel systemische Effekte ausgeschlossen werden: Ein Konkurs eines Unternehmens in der Realwirtschaft führt nicht automatisch zu einer Kettenreaktion von Konkursen anderer Firmen – und auch Effekte auf Zahlungsverkehr und Preise sind nicht zu erwarten. All das trifft auch auf die Stahlindustrie zu. Zudem gibt es genug Stahlwerke im näheren Umfeld, welche die Schweizer Nachfrage decken könnten. Aus volkswirtschaftlicher Sicht ist daher klar: Der Staat soll keine Firmen retten – tut er es doch, ist das nicht nur kostspielig, sondern er zerstört langfristig auch mehr Arbeitsplätze als er in der kurzen Frist sichert.

Dieses Interview ist in gekürzter Form in der Westschweizer Zeitung «La Liberté» erschienen.