Internationale Handelskonflikte, ein tief gespaltenes Land in der EU-Frage, akuter Fachkräftemangel – die Herausforderungen für den Wirtschaftsstandort Schweiz sind zahlreich. Seit Jahren wird vor einer Verschlechterung der Rahmenbedingungen gewarnt – auch Avenir Suisse stimmt gelegentlich in diesen Chor ein. Doch wie steht es tatsächlich um die Standortqualität und Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz?
Ein aufschlussreicher Gradmesser sind internationale Länderrankings. Diese beruhen auf einer Vielzahl unterschiedlicher Indikatoren, die gewichtet zu einem Gesamtindex zusammengeführt werden. Vor einem Jahr haben wir 22 der bekanntesten und meistdiskutierten Rankings zur Wettbewerbsfähigkeit und Standortqualität untersucht – von Innovationskraft über Korruption bis hin zum allgemeinen Glücksempfinden.
Das Ergebnis? Die Schweiz schneidet in vielen Bereichen hervorragend ab, ein genereller Abwärtstrend war nicht erkennbar. Doch die Analyse offenbarte auch die Schwächen solcher Vergleiche: unsichere Datenquellen und häufige Methodenänderungen, die langfristige Vergleiche erschweren. Besonders deutlich zeigte sich dies beim «Doing Business»-Report der Weltbank, der 2021 nach Manipulationsvorwürfen eingestellt wurde.
Trotz dieser Unzulänglichkeiten wäre es falsch, Rankings einfach abzutun. Sie reduzieren Komplexität, ermöglichen internationale Vergleiche und können – im besten Fall – Reformen anstossen. Zeit also für einen aktuellen Blick auf die Position der Schweiz.
Kein Spitzenreiter bei KI
Von einem Jahr aufs andere gibt es in Rankings selten dramatische Veränderungen – und 2024 macht da keine Ausnahme. Dennoch konnte die Schweiz ihre bereits starke Position in einigen Ranglisten sogar noch verbessern. Unangefochten an der Spitze steht sie in den Bereichen Innovationsfähigkeit und Attraktivität für Talente. Auch bei der allgemeinen Wettbewerbsfähigkeit gibt es Podestplätze.
Weniger rosig sieht es hingegen im Bereich der künstlichen Intelligenz (KI) aus: Hier rutscht die Schweiz weiter ab. Das überrascht gleich doppelt – einerseits, weil sie in Sachen Innovation und Fachkräfte weltweit zu den Spitzenreitern gehört, anderseits weil sich gerade Zürich in den letzten Jahren zu einem florierenden KI-Hub entwickelt hat.
Namhafte Tech-Konzerne wie Google – mit seinem wichtigsten Forschungsstandort ausserhalb der USA –, IBM, Microsoft, Meta, Apple und der Chip-Hersteller Nvidia betreiben hier Forschungseinrichtungen. Zuletzt eröffneten OpenAI und Anthropic, die Entwickler der bekannten Sprachmodelle ChatGPT und Claude.ai, Büros in Zürich.
Diese Dynamik spiegelt sich auch in den KI-Rankings wider: In Kategorien wie Talentverfügbarkeit sowie Forschung und Entwicklung schneidet die Schweiz stark ab. Dies gilt erst recht, wenn man die Leistung ins Verhältnis zur Bevölkerungs- und Wirtschaftsgrösse setzt. Doch es gibt diverse Schwachstellen. So bringt die Bevölkerung KI (und den Unternehmen, die sie nutzen) vergleichsweise wenig Vertrauen entgegen. Zudem kann das Land aufgrund seiner Grösse in absoluten Zahlen – gerade im Vergleich zu den KI-Giganten USA und China – etwa in puncto Investitionen und Unternehmensdichte nicht mithalten.
Der mit Abstand grösste Kritikpunkt in den beiden analysierten KI-Rankings liegt jedoch am Fehlen einer nationalen KI-Strategie. Die Schweiz kennt keine staatlich koordinierten Programme, die durch gezielte Investitionen, Regulierung und Fördermassnahmen die Entwicklung und Anwendung von KI in Wirtschaft, Wissenschaft und Verwaltung vorantreiben sollen.
Ein KI-Masterplan für die Schweiz?
Man muss sich allerdings fragen, ob das Fehlen einer nationalen Strategie wirklich ein Nachteil ist. Die Schweiz fusst traditionell auf Dezentralität und Eigenverantwortung. Statt auf staatlich verordnete Masterpläne zu setzen, vertraut sie darauf, dass Unternehmen, Bildungs- und Forschungseinrichtungen selbst am besten wissen, wie sie KI entwickeln und nutzen können. Während andere Länder Milliarden in gross angelegte Regierungsstrategien stecken, bleibt die Schweiz (bisher) ihrem bewährten Prinzip treu: Innovation entsteht von unten – nicht durch zentral gesteuerte Programme.
Bis anhin war dieser Ansatz ein Erfolgsrezept. Er verhindert eine übermässige Bürokratisierung und lässt Raum für flexible, praxisnahe Lösungen. Zugleich ist es nicht richtig, zu behaupten, die Schweiz habe überhaupt keine KI-Strategie. Der Bundesrat hat Ende 2024 die «Strategie Digitale Schweiz 2025» verabschiedet und darin KI als Fokusthema festgelegt.
Hinzu kommen die «Strategie Digitale Verwaltung Schweiz 2024-2027» sowie die «Strategie Digitale Bundesverwaltung», die zumindest in einigen Bereichen das Thema KI aufgreifen. Doch bereits die Titel dieser Strategien zeigen ein grundlegendes Problem: Die digitale Verwaltung in der Schweiz kommt nur langsam voran. Dabei sind eine gut ausgebaute digitale Infrastruktur und verfügbare Daten die Grundlage für den Einsatz von KI. Ob sich diese digitale «Offensive» in zukünftigen Rankings positiv niederschlägt, bleibt abzuwarten.
Strategiepapiere allein garantieren noch keinen Erfolg. Das zeigt einmal mehr, warum einzelne Indikatoren und die daraus resultierenden Ranglisten mit einer gesunden Portion Skepsis betrachtet werden sollten. Richtig eingeordnet, bieten sie jedoch wertvolle Orientierungshilfen, um Fortschritte und Rückschritte besser zu erkennen und die Politik in die Verantwortung zu nehmen.
Die Schweiz bleibt als Standort weiterhin äusserst attraktiv – eine erfreuliche, aber zugleich riskante Entwicklung. Erfolg und Wohlstand sind keine Selbstläufer, sondern bergen die Gefahr der Selbstzufriedenheit. Gute Rankings können dazu verleiten, bestehende Herausforderungen zu unterschätzen und notwendige Reformen auf die lange Bank zu schieben. Doch wer im internationalen Wettbewerb stillsteht, fällt rasch zurück.