Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie: Am 9. März diskutierten wir hier die regelmässig publizierten BIP-Prognosen des Internationalen Währungsfonds (IWF). Wir rechneten vor, welche enormen wirtschaftlichen Einbrüche diverse Länder seit Beginn der Finanzkrise 2008 zu erleiden hatten – allesamt natürlich unvorhergesehen und erst nachwirkend in die neuen Prognosen aufgenommen – und um wie viele Jahre diese sie in ihrem Wohlstandswachstum zurückgeworfen haben. Und schon stand die nächste grosse Krise in der Tür: Corona.

Bald acht Monate sind seither vergangen. Das Sars-Cov-2-Virus wütete im März in Mitteleuropa, seit April in den USA, breitete sich im Sommer (bzw. dessen Winter) in Südamerika und schliesslich in Indien aus. Und der epidemiologische Teil der Krise ist noch nicht überstanden: Europa erlebt nach verhältnismässig ruhigen Sommermonaten eine zweite Infektionswelle, deren Ausgang noch ungewiss ist. Ein endgültiges Ende wird die Pandemie vermutlich erst mit der Entwicklung eines wirkungsvollen Impfstoffs haben.

Ebenso wenig überstanden sind die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie und der Massnahmen zu ihrer Eindämmung. Den weiteren Verlauf des Wirtschaftswachstums (und anderer volkswirtschaftlicher Kennzahlen) haben die Experten des IWF im Oktober zu schätzen versucht.

Die BIP-Prognosen auf Ebene von Ländergruppen

Gegenüber den im Vorjahr prognostizierten Werten betragen die Verluste im internationalen Durchschnitt für das Jahr 2020 je nach Weltregion zwischen 6% bis 10% des BIP (vgl. Abbildung 1). Unklar ist der weitere Verlauf. An sich ist Corona ein klassischer exogener Schock, aus dem heraus eine Volkswirtschaft wieder verhältnismässig schnell auf ihren alten Wachstumspfad zurückfinden müsste. Das spräche dafür, dass sich die gegenüber der 2019er-Prognose aufgeklafften Lücken in den Folgejahren schnell schliessen.

In der Realität ist es aber leider nicht so einfach. Eine von aussen herangetragene Krise kann zu einer Kettenreaktion negativer Auswirkungen kommen, die sich quer durch Wirtschaft und Gesellschaft fressen und kaum prognostizieren lassen. Der offensichtlichste Risikofaktor sind die Staatsschulden. Viele Länder starteten schon überschuldet in die Pandemie – die dann zu einem Einbruch der Einnahmen und zu enormen Mehrausgaben der öffentlichen Hand führte.

Die Folgen absehbarer Staatsbankrotte können wiederum Auswirkungen auf andere Länder haben. Auch die politische Stabilität und der gesellschaftliche Friede sind durch solche Krisen gefährdet. Sie bilden einen Nährboden für eine weitere politische Polarisierung, für Unruhen oder gar Umstürze. Solche Kettenreaktionen hat der IWF im Nachgang der Finanzkrise unterschätzt, was sich exemplarisch an den übereinandergelegten Prognosekurven für Griechenland zeigt (kann in der interaktiven Abbildung 2 ausgewählt werden).

Es scheint, als habe der IWF seine Modelle verfeinert und vermehrt auch institutionelle Interdependenzen berücksichtigt, denn im Nachgang des Corona-Einbruchs prognostizieren die IWF-Experten zwar durchaus einen gewissen Aufholprozess, doch unter den sechs Länderklassen soll bis 2024 keine deutlich mehr als die Hälfte des 2020er-Einbruchs wettmachen (Abbildung 1). Global und über diese fünf Jahre aggregiert kumulieren sich die Wertschöpfungsverluste auf den astronomischen Betrag von 24,4 Billionen – also 24’400’000’000’000 – Franken.

Aufschlussreich sind die Unterschiede zwischen den Länderklassen: Am ehesten eine V-Form, also eine rasche Erholung, wird für die entwickelten Volkswirtschaften (weite Teile Europas inklusive Schweiz, USA, Kanada, Israel, Japan, Südkorea, Singapur, Hong Kong, Taiwan, Australien, Neuseeland) prognostiziert. Sie schliessen bis 2024 immerhin etwas mehr als die Hälfte der Prognoselücke. Dicht darauf folgen die europäischen Schwellenländer und (das von China dominierte) Ostasien, wo der Einbruch mit 6% aber schon 2020 am geringsten war.

Eine fast perfekte L-Form wird hingegen (im Durchschnitt) für die Entwicklungs- und Schwellenländer Afrikas, dem Nahen Osten, Zentralasien sowie Lateinamerika und der Karibik prognostiziert. Sie werden in den nächsten Jahren – im Verhältnis zur Vorjahresprognose – kaum etwas vom covidbedingten Einbruch wettmachen. Das untermauert die These, dass die Gefahr negativer Kettenreaktionen in Ländern mit schwächeren politischen Institutionen höher ist als in solchen mit starken. In Ersteren schwelen oft schon länger Konflikte im Unterholz, aus denen dann mit Corona als Zündfunken schnell Grossbrände werden können.

Die BIP-Prognosen für 25 einzelne Länder

Für die Analyse der IWF-Prognosen auf desaggregierter Ebene verwenden wir dasselbe Vorgehen wie im eingangs erwähnten Blog: Zehn IWF-Prognosen der letzten zwölf Jahre zur Entwicklung des BIP pro Kopf werden übereinanderlegt. Um einen guten Vergleich zwischen den Ländern zu ermöglichen, ist in den vorliegenden interaktiven Grafiken das (inflationsbereinigte) BIP auf das Jahr 2007 – also knapp vor Ausbruch der damaligen Finanzkrise – indexiert. Die Daten in der Grafiklegende entsprechen dem Prognosedatum der jeweiligen BIP-Linie. Zur Auswahl stehen 25 Länder, deren Wirtschaften entweder besonders wichtig sind oder die besonders spannende Muster in den Prognoseveränderungen aufweisen. Aus diesen können Sie sich in der Grafik beliebige Ländervergleiche selber zusammenstellen.

Abbildung 2: Die IWF-Prognosen von 2008 bis 2020 für 25 Länder

Lesebeispiel:

Klickt man auf den Prognosezeitpunkt «April 2008», zeigt die rote Kurve das BIP-Wachstum bis 2008 und das damals für die folgenden fünf Jahre prognostizierte Wachstum. Klickt man anschliessend auf «April 2009», wird die revidierte Wachstumskurve hervorgehoben. Die Differenz zwischen der dunkelblauen und der lila Kurve zeigt die Auswirkungen der Corona-Krise.

Quelle: Eigene Berechnungen auf Basis der IMF World Economic Outlook Database April 2008 bis Oktober 2020.

Bei Durchsicht dieser 25 mehrheitlich grossen Volkswirtschaften zeigt sich: Ähnlich wie bei der Finanzkrise des Jahres 2008 gibt es kaum ein Land, das durch die Corona-Krise nicht einen deutlichen Einbruch seiner Wachstumskurve zu verzeichnen hat. Anderseits ist der BIP-Einbruch vielerorts nicht entscheidend grösser als bei der Finanzkrise. Ein paar spezifische Beobachtungen:

  • Die für die Schweiz vom IWF prognostizierte Rezession entspricht eher einer L- als einer V-Form. An der vor 7 Monaten diagnostizierten Wachstumsschwäche hat sich nichts geändert – sie findet neu einfach ein paar Prozente weiter unten statt. Das noch vor Jahresfrist für 2020 prognostizierte Pro-Kopf-BIP soll sie bis 2025 nicht erreichen.
  • Griechenlands Pro-Kopf-BIP wird 2020 bloss 72,4% des Niveaus von 2007 betragen. Beim prognostizierten Wachstumspfad würde es bis 2036 dauern, bis Griechenland wieder den Wert von 2007 erreicht.
  • Italien steht fast so schlecht da wie Griechenland. 2020 soll das Pro-Kopf-BIP 83,3% des 2007er-Werts betragen; die Wachstumsdynamik ist schwach.
  • Spanien und Portugal sollen dagegen ihre grossen Einbrüche verhältnismässig schnell wieder wettmachen.
  • Für Irland waren die Prognosen bisher nicht das Papier wert, auf das sie geschrieben waren. Die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung des Steuerparadieses trieb bisher seltsame Blüten. Der Covid-Einbruch soll bald aufgeholt sein.
  • In Brasilien bedeutet Covid eine Verschärfung der bisherigen Wirtschaftskrise.
  • Mexiko wird ein grosser Einbruch ohne anschliessende Aufholtendenz prognostiziert.
  • China Wachstumskurve ist der dargestellten Skala längst entschwunden. Das Pro-Kopf-BIP soll gemäss IWF dieses Jahr 3,7% unter dem im Vorjahr prognostizierten Wert zu liegen kommen. Damit verliert China bloss ein halbes Jahr Wirtschaftswachstum.
  • Indiens BIP erleidet einen enormen Einbruch. Gegenüber der vorjährigen Prognose wird 2020 ein Verlust von 16,2% prognostiziert, der sich in den Folgejahren kaum vermindern soll. Da Indien allerdings ein sehr hohes Trendwachstum aufweist, handelt man sich dadurch bloss einen Wachstumsrückstand von drei Jahren ein.
  • Nigeria setzt seine seit 2015 laufende Elendsserie fort. Vom afrikanischen Löwenstaat (in Anlehnung an die asiatischen Tigerstaaten) zum Wachkoma-Patienten: Nigeria ist die einzige der analysierten 25 Volkswirtschaften, für die der IWF im Anschluss an die Corona-Krise permanentes Nullwachstum prognostiziert.
  • Eine ähnliche Tragödie spielt sich in Südafrika ab.

Nicht wenige Länder durchleben als Folge diverser wirtschaftlicher Einbrüche seit der Finanzkrise – gekrönt durch Corona (das Wortspiel sei verziehen) – eine voraussichtlich jahrzehntelange Phase der Wohlstandsstagnation. Es ist schwierig, seit Beginn der Industrialisierung ähnlich lange Perioden des Stillstands – bzw. präziser: des sich gegenseitig auslöschenden Auf-und-Abs – auszumachen.

Derart lange Phasen der Stagnation erschüttern das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der Marktwirtschaft und sie öffnen den leeren Heilsversprechen von Populisten Tür und Tor. Das stellt eine Gefahr für freiheitliche Rechtsordnungen und demokratische Institutionen dar. Es ist zu hoffen, dass diese ohne permanenten Schaden aus den Krisen hervorgehen – denn sie sind wiederum die wichtigsten Pfeiler für Prosperität und individuelle Freiheit.