Der Bundesrat und die grosse Mehrheit des Parlaments lehnen die Begrenzungsinitiative (BGI) ab, weil sie den bilateralen Weg mit der EU gefährdet. Die Initiative stelle die stabilen Beziehungen der Schweiz zu ihrer wichtigsten Partnerin in Frage. Damit setze sie Arbeitsplätze und Wohlstand aufs Spiel – und das angesichts der Covid-19-Krise in einer Zeit grosser wirtschaftlicher Unsicherheiten.

Nach Auffassung des Bundesrates ist der mehrfach vom Volk bestätigte bilaterale Weg der richtige. Er hat es erlaubt, auf die Bedürfnisse unseres Landes und seiner Bürgerinnen und Bürger zugeschnittene Lösungen zu finden. Die bilateralen Abkommen garantieren ausgewogene Beziehungen zu unserer bedeutendsten Handelspartnerin.

Wird die BGI und damit die Beendigung der Personenfreizügigkeit (PFZ) angenommen, so muss der Bundesrat mit der EU innerhalb von 12 Monaten das Ende der Freizügigkeit aushandeln. Gelingt dies nicht, so müsste er das Personenfreizügigkeits-Abkommen innert weiteren 30 Tagen einseitig kündigen. In diesem Fall käme die Guillotine-Klausel zur Anwendung und alle sieben bilateralen Abkommen würden ausser Kraft treten (Bundesrat 2020).

Seitens EU-Rat wird stets betont, «dass die Freizügigkeit eine tragende Säule der EU-Politik ist und dass der Binnenmarkt und seine vier Freiheiten unteilbar sind» (Council of Europe 2019). Trotz klarer Vertragsgrundlage zwischen der Schweiz und der EU sowie den offiziellen Verlautbarungen des Bundesrates und des EU-Rats wird von den Initianten der BGI diese Sachlage bestritten. Demnach gebe es «keinen Anlass zu glauben, dass die EU prinzipiell die Bilateralen I kündigen möchte, ohne Verhandlungen anzustreben. Sie gehört zu den Profiteuren der betroffenen Verträge und hat ein grosses Interesse an deren Fortbestand» (Komitee der Volksinitiative 2020).

Vorteile überwiegen

Im Hinblick auf die Wirtschaft, das Sozialwesen, die Bildung und die Sicherheit ergibt ein Verzicht auf die PFZ keinen Sinn. Das gesamtwirtschaftliche Einkommen wie auch das BIP pro Kopf konnten seit der Einführung der Freizügigkeit gesteigert werden. Die PFZ-Zuwanderung wirkt komplementär auf dem Arbeitsmarkt. In der Summe entlastet sie das Schweizer Sozialversicherungssystem. Die Kriminalität ist nicht gestiegen, das Sicherheitsempfinden der Schweizer Bevölkerung nimmt stetig zu.

Unbehagen über die PFZ – warum?

Albert Einstein wird das Bonmot nachgesagt, wonach eine vorgefasste Meinung schwieriger zu zertrümmern sei als ein Atom. Doch man macht es sich zu einfach, wenn man für die emsige Bewirtschaftung des Narrativs des bösen, d.h. europäischen Auslands durch Angst und Abgrenzung allein die Befürworter der BGI kritisiert. In einer direkten Demokratie wie der unsrigen gehört die emotionale Zuspitzung von umstrittenen Themen zur politischen Essenz vor Urnengängen.

Etwas schwieriger wird es, wenn diese Vorurteile gegen alles, was aus «Brüssel» kommt, auch von anderen Protagonisten der öffentlichen Meinungsbildung routinemässig bewirtschaftet werden. Damit werden eigene Unzulänglichkeiten in der Bundes- und Kantonspolitik übertüncht. Anstelle mit erhobenem Finger ausser Landesgrenzen zu zeigen, sollten die liberalen Hausaufgaben also zuerst im Innern angepackt werden.

Dazu gehören insbesondere die hausgemachten Regulierungen, die den Schweizer Arbeitsmarkt immer mehr einengen. Die flankierenden Massnahmen (FlaM) wurden 2004 als Begleitmassnahme zur PFZ eingeführt. Die Angst vor Lohndruck aus dem Ausland hat sich jedoch als weitgehend unbegründet erwiesen, wie bereits eine Avenir-Suisse-Studie aus dem Jahr 2017 ergab (Schlegel 2017). Vielmehr haben die FlaM selbst negative Auswirkungen: Sie erschweren die Integration von Berufs- und Quereinsteigern oder Tiefqualifizierten. Seit deren Einführung wurden die flankierenden Massnahmen in Eigenregie siebenmal verschärft. Es ist offensichtlich: Die Bundespolitik tritt der Vergewerkschaftung des Arbeitsmarktes nicht entschieden genug entgegen (Grünenfelder 2018).

Freilich: Angesichts der Covid-19-Krise bestehen bei der werktätigen Bevölkerung teilweise virulente Ängste vor einem Arbeitsplatzverlust. Diese Befürchtungen sind ernst zu nehmen. Die Kurve der Arbeitslosigkeit zeigt nach oben, in den nächsten Monaten ist – nach dem Auslaufen der Kurzarbeitsentschädigung – mit einem Anstieg zu rechnen. Was liegt näher, als zuerst das Recht auf Stellenerhalt für die eigene Bevölkerung zu fordern? Ist daher der Umkehrschluss doch richtig, dass die derzeit düsteren Arbeitsmarktaussichten eine «Re-Nationalisierung» der Migrationssteuerung verlangen? Analog wie bei der staatlich angeordneten Rückkehr der Produktionsstätten hätte die Schweiz auch bei einer Aufgabe der PFZ viel zu verlieren.  Eine Abgrenzung gegen die europäischen Nachbarn ist der falsche Ansatz. Den offenen Wettbewerb um die besten Talente muss die Schweiz keineswegs scheuen.

Grenzübergang zwischen der Schweiz und Italien in Como. (Wikimedia Commons)

Keine Einführung planwirtschaftlicher Instrumente

Der eindrücklichen wirtschaftlichen Erfolgsgeschichte unseres Landes zugrunde liegt die internationale und damit vor allem auch die europäische Verflechtung. Migration, die stete Ein- und Auswanderung, ist Teil der Schweizer DNA. Der von der Agrarpolitik geprägte Begriff eines möglichst hohen Selbstversorgungsgrades funktioniert weder im ersten Sektor noch auf dem Arbeitsmarkt. Beim ersteren sind es limitierte Raum- und Umweltressourcen, die einem unbegrenzten Ausbau der Nahrungsmittelproduktion hierzulande Grenzen setzen.  Bei letzterem kann das inländische Arbeitspotenzial aus demografischen Gründen auf Dauer schlicht nicht die Nachfrage der Unternehmen nach qualifizierten Arbeitskräften erfüllen.

Die alternative Steuerung der bisherigen, durch die Nachfrage des Arbeitsmarktes getriebene PFZ-Migration durch eine staatliche Administration ist aus liberaler Sicht eine düstere Perspektive. Bürokratische Kontrollmechanismen und administrative Entscheide fernab des unternehmerischen Betriebsalltags wären die Folge. Der personengetriebene Ideenwettbewerb, Austausch und eine dynamische Wirtschaftsentwicklung würden erschwert. Nicht zu vernachlässigen: In jenen Bereichen, in denen der Staat heute die Migrationspolitik regulativ verantwortet, ist entweder der administrative Aufwand für die Unternehmen gross (wie bei der Drittstaatenkontingentierung) oder die generelle Unzufriedenheit über das staatliche Organisationsmanagement weit verbreitet (z.B. im Asylwesen).

Der Staat ist grundsätzlich ein schlechter Organisator und Koordinator der Migration (Bessard 2020). Der altbekannte Slogan «Mehr Freiheit, weniger Staat» würde sich darum insbesondere auf dem Arbeitsmarkt mehr lohnen. Eine offene Gesellschaft wie unsere Schweizer Demokratie sollte davon absehen, sich auf dem Arbeitsmarkt neue planwirtschaftliche Massnahmen aufzuerlegen (vgl. Popper 2003 und Hayek 2003). Auch angesichts der wirtschaftlichen Verwerfungen infolge Covid-19 sollte die Resilienz des Wirtschaftsstandorts Schweiz nicht geschwächt werden.

Klar scheint eines: Im Falle einer Zustimmung des Schweizer Souveräns zur BGI bräuchte es eine Neudefinition des Verhältnisses zur Europäischen Union. Die Gretchenfrage beim Ausfüllen des Stimmcouverts muss lauten, welche alternativen, gleichwertigen Handlungsoptionen die Schweiz zu den Bilateralen mit der EU hat. Diese Frage lassen die Initianten unbeantwortet. Der Marktzugang zum EU-Binnenmarkt ist für die Schweizer Prosperität entscheidend. Er sollte nicht aufs Spiel gesetzt werden.

Dieser Text spiegelt das Fazit aus der Avenir-Suisse-Publikation «Personenfreizügigkeit – Eine ökonomische Auslegeordnung».