Seit Jahren setzt sich Avenir Suisse mit dem Thema der bilateralen Beziehungen mit der EU auseinander. Die aktuelle Debatte um die Begrenzungsinitiative und die Personenfreizügigkeit ist von widersprüchlichen Argumenten geprägt. Die neue Avenir-Suisse-Studie unterzieht zehn häufig gestellte Fragen einem ökonomischen Faktencheck:
1. Führt die PFZ zu Massenzuwanderung? Seit der stufenweisen Einführung der PFZ 2002 liegt der jährliche Wanderungssaldo der Personen aus dem EU-Raum im Schnitt bei 43000. Die Zahl der tatsächlich als direkte Folge der PFZ Eingewanderten dürfte bedeutend tiefer, zwischen 10000 und 15000 liegen, da es bereits vor der Einführung der PFZ eine Zuwanderung aus dem EU-/Efta-Raum gab. Die Arbeitsmarktbeteiligung der PFZ-Zuwanderer beträgt hohe 87,7% (2019).
2. Wie beeinflusst die PFZ den Wohlstand? Seit der Einführung der PFZ entwickelten sich viele volkswirtschaftlich relevante Indikatoren wie das reale BIP-pro-Kopf, die Arbeitsproduktivität und das Exportvolumen positiv. Das mittlere BIP-Wachstum pro Kopf der Jahre 2002 – 2018 betrug 1,02% (1992 – 2002: 0,66%). Deutlich gestiegen – um fast 0,5 Mio. Personen – ist auch die Zahl von Schweizerinnen und Schweizern, die heute in den EU- und Efta-Staaten leben und arbeiten.
3. Führt die PFZ zu Lohndumping und zur Verdrängung einheimischer Arbeitskräfte? Die in der Schweiz befürchteten negativen Effekte der PFZ auf Löhne und Beschäftigung haben sich nicht bewahrheitet. Über ein Dutzend ökonometrische Analysen kommen zum Schluss, dass die Verdrängungseffekte infolge der PFZ-Migration insgesamt gering sind. Die Lage der einheimischen Arbeitnehmer mit tiefen und mittleren Qualifikationen hat sich aufgrund der PFZ sogar verbessert, bei den Löhnen der hochqualifizierten Inländer war ein gewisser Lohndruck festzustellen.
4. Welchen Beitrag leisten PFZ-Migranten zur Bewältigung von Covid-19? EU-/Efta-Bürger bekleiden 19% aller Arbeitsstellen im Schweizer Gesundheitswesen, und auch in der Pharma- oder Lebensmittelindustrie arbeiten überdurchschnittlich viele EU-Staatsangehörige. Ein Wegfall der PFZ würde die Versorgungssicherheit im Land mindern und die Exportkraft der Schweiz beeinträchtigen.
5. Be- oder entlastet die PFZ die Sozialversicherungen? Der Finanzierungs- und Bezugsanteil von EU-/Efta-Bürgern variiert je nach Sozialwerk. Unter Berücksichtigung der relativen Grösse der einzelnen Versicherungen überwiegt der klar positive Finanzbeitrag der EU-/Efta-Bürger in der Altersvorsorge, IV sowie in den Krankenversicherungen gegenüber den negativen Effekten in der Arbeitslosenversicherung und der Sozialhilfe.
6. Senkt die PFZ das Qualifikationsniveau der Arbeitskräfte? 84% der seit 2002 aus dem EU-/Efta-Raum Zugewanderten verfügen mindestens über einen Abschluss der Sekundarstufe II (berufliche Grundbildung oder Maturität), 55% über einen Universitäts- oder Fachhochschulabschluss. Insgesamt beeinflusst die PFZ die Qualifikationsstruktur der Zuwanderung positiv, da vorwiegend hochqualifizierte Arbeitskräfte einwanderten. Von einem negativen Einfluss auf die Schulqualität ist nicht auszugehen.
7. Steigert die PFZ die Kriminalität? Seit Inkrafttreten der PFZ ist die Sicherheit in der Schweiz gestiegen. 2002 fühlten sich 86% der Schweizerinnen und Schweizer sicher, 2020 waren es hohe 95%. Im Rahmen der transnationalen Polizeizusammenarbeit mit dem Schengener Informationssystem (SIS) konnten die Treffer in schweizerischen Fahndungen seit 2014 um 82 % gesteigert werden.
8. Steigen aufgrund der PFZ die Wohnkosten? Es gibt einen punktuellen Effekt der Zuwanderung auf die Wohnkosten, vor allem in den grösseren Städten und Agglomerationen. Dort ist die Wohnungsknappheit aber primär hausgemacht. Per Saldo liegen auf dem Neu- und Wiedervermietungsmarkt die Mieten inflationsbereinigt wieder auf dem Stand von 1988 bzw. 1995. Insgesamt hat sich die finanzielle Tragbarkeit der Wohnausgaben seit 2002 verbessert: Mit 14% ihres Bruttoeinkommens gaben die Schweizer Haushalte noch nie zuvor einen so geringen Anteil für das Wohnen aus.
9. Freihandel statt Bilateralismus als Alternative? Ein neues, umfassendes Freihandelsabkommen (FHA) zwischen der Schweiz und der EU wäre kein gleichwertiger Ersatz für die Bilateralen, denn der reine Marktzugang ist weniger attraktiv für Schweizer Unternehmen als die umfassende Einbindung in den EU-Binnenmarkt. Mit einem FHA würden auch die regulatorischen Aufwände für die Unternehmen wachsen. Da die neuen administrativen Zugänge Fixkostencharakter haben, würde dies die exportierenden KMU mehr treffen als die Grossunternehmen.
10. Verliert die Schweiz wegen der PFZ an Souveränität? Souveränität ist kein klar definierter Begriff, sondern hat sich im Lauf der Geschichte stets gewandelt. Da globale Fragestellungen zunehmend komplexer werden, ist auch die Schweiz mit der Frage konfrontiert, inwieweit ein Souveränitätstransfer von der nationalen Ebene auf eine übergeordnete Stufe stattfinden soll. Souveränität bedeutet in einer verflochtenen Welt auch Mitwirkung auf internationaler Ebene.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Schweiz klar von der Personenfreizügigkeit profitiert.