Radikale Gewerkschafter versuchen, das Land in Schach zu halten. Arbeitswillige aus anderen Regionen sollen ausgesperrt werden. Die Konfrontation zwischen den auf den Status quo fixierten Gewerkschaftsfunktionären und den wettbewerbsorientierten Kräften treibt auf den Höhepunkt zu. Schaut die Regierung diesem Treiben willfährig zu?
Nein, denn es ist 1983 im Vereinigten Königreich im Jahr des Bergarbeiterstreiks – nicht 2021 während dem europapolitischen Entscheidungsstau in Bundesbern. Mit Führungswillen und Entscheidungsstärke brach die damalige Thatcher-Regierung die gewerkschaftliche Dominanz, die das Königreich in Paralyse versetzte und die Rahmenbedingungen erodieren liess.
Demgegenüber nimmt heute der Politbetrieb unter den Berner Lauben gemächlich seinen gewohnten Gang. Zwar wird nicht nur hinter vorgehaltener Hand kritisiert, dass die Gewerkschaften mittlerweile nicht nur die Sozialdemokratie, sondern auch den Bundesrat und das exportorientierte Unternehmertum in Geiselhaft genommen haben.
Der Forderungskatalog des Bundesrates an die EU bezüglich InstA liest sich, als wäre dieser im Gewerkschaftsbüro formuliert worden. Das Mantra des Status quo im Lohnschutz wird bei jeder Gelegenheit betont – obwohl kaum ein Arbeitnehmer hierzulande davon betroffen ist.
Bei diversen Parteispitzen wird das InstA entgegen aller Umfragen als «nicht mehrheitsfähig» desavouiert, doch weder Parteibasis noch Souverän konnten sich bislang je dazu äussern. Trotz Verlautbarungen der Parteipräsidien sprach sich jüngst der Nationalrat klar gegen eine Motion aus, die den Abbruch des InstA verlangte. Es ist das neue Souveränitätsparadoxon: Aus Angst vor dem vermeintlichen Souveränitätsverlust des Landes wird es dem Souverän partout verwehrt, seine Stimme abzugeben. Zeigen sich also mehr «fundamentale Differenzen» zwischen der europapolitischen Haltung des Volkes und dem Bundesrat als zwischen dem Bundesrat und der EU?
Die fast surreale Bedeutung der Gewerkschaften in der Europafrage ist nur mit der «Blase» unter der Bundeshauskuppel zu erklären, in der sich die Landesregierung und ihre Stäbe bewegen. In der realen Arbeitswelt meiden dagegen junge Menschen und die Mehrheit der Arbeitnehmenden die Gewerkschaften, die zu Besitzstandswahrungsmaschinerien für Rentner, Beamte und Funktionäre verkommen. Das Ungleichgewicht ist insbesondere in der Sozialpartnerschaft frappant. Zwischen der Repräsentation aller Arbeitnehmenden und Berufsgruppen einerseits und deren Einsitz in sozialpartnerschaftlichen Kommissionen anderseits öffnen sich Gräben.
Niemand wagt das heisse Eisen anzufassen, wonach sich die Sozialpartnerschaft in der heutigen Form überlebt hat. Auf der Website des Wirtschaftsdepartements wird stolz auf die Sozialpartnerschaft als «wichtigem Pfeiler der Schweizer Wirtschaftskultur» verwiesen, weshalb «auf diesem Erfolgspfad» weitergegangen werden soll. Ausgeblendet wird, dass die derzeitige Ausgestaltung der Sozialpartnerschaft das grösste Risiko für die Fortführung des erfolgreichen bilateralen Wegs mit der EU darstellt – und somit eher früher als später auch ein Risiko für die Beschäftigung selbst. Dazu kostet sie die Steuerzahlenden Unmengen von Geld (Stichwort: Überbrückungsrente), ohne dass auf Gewerkschaftsseite minimale Kompromissfähigkeit zu erkennen wäre.
Das hat einerseits mit dem fehlenden liberalen Kompass im Bundesrat zu tun, aber auch mit einer gewissen Naivität der Sozialpartner auf Arbeitgeberseite (und deren Bereitschaft, wichtige Grundsätze in Verhandlungen ohne Not über Bord zu werfen). Anderseits eint die Sozialpartner auf beiden Seiten des Verhandlungstisches der Wille zum Schutz vor unangenehmer Konkurrenz.
In der Europafrage befindet sich unser Land vor einer gewichtigen Weichenstellung. Doch auch in der Sozialpartnerschaft befindet man sich an einem Scheideweg zwischen struktureller Reform und wirtschaftlicher Isolation. Auch hier bräuchte es mehr politischen Führungswillen.
Dieser Beitrag ist am 12. Mai 2021 in der «Handelszeitung» erschienen.