«Finanz und Wirtschaft»: Herr Grünenfelder, die Schweiz liegt in vielen international vergleichenden Rankings an der Spitze. Was machen wir besser als die anderen?

Peter Grünenfelder: Das trifft zu, die Schweiz hat Spitzenränge, etwa beim Wohlstand pro Kopf der Bevölkerung. Das hat zunächst mit unserer Offenheit und ausgeprägten Exportorientierung zu tun. Aufgrund unseres kleinen Binnenmarktes ist der möglichst ungehinderte Zugang zu ausländischen Märkten essenziell. Unsere Unternehmen sind vielfach Weltmarktführer mit spezialisierten und hochwertigen Produkten. Hinzu kommen die politische Stabilität und der noch relativ liberale Arbeitsmarkt. Die Schweiz hat noch immer eine hohe soziale Kohäsion. Das sind die Pfeiler, die zum Erfolg geführt haben. Aber wir dürfen uns nicht zurücklehnen. Die Warnsignale häufen sich.

Was läuft falsch in der Schweiz?

Plakativ gesprochen ist Wilhelm Tell etwas müde und satt geworden. Die Tendenz zur Umverteilung nimmt zu. Die erweiterte Staatsquote, inklusive der beruflichen Vorsorge sowie der Krankenkassen, ist seit 1995 um 6 Prozentpunkte auf 44,3% gewachsen. Das ist ein hoher Wert, der in der Öffentlichkeit kaum thematisiert wird. Zudem lässt die Erneuerungskraft nach. So ist die Schweiz bei der Gründung von Start-ups weit im Hintertreffen. Wir erreichen international nur Rang 69.

Dafür sind wir Patentweltmeister.

Ja, aber die hohe Zahl der Patente wird vorwiegend von den multinationalen Konzernen eingereicht. Problematisch sind auch die hohen Markteintrittsbarrieren. Ich denke etwa an den Elektrizitätsmarkt oder an die massiv subventionierten Agrarmärkte. Letzteres führt dazu, dass der Abschluss neuer Freihandelsabkommen blockiert wird. Ein ungelöstes Problem ist zudem die Altersvorsorge. Wenn ich den jüngsten Entscheid des Parlaments sehe, befürchte ich, dass wir auf einen offenen Generationenkonflikt zusteuern. Die Schweiz hat eine der höchsten Lebenserwartungen weltweit. Wir haben jedoch faktisch die rote Laterne, wenn es um die Erhöhung des Rentenalters geht. Diese eigentlich zwingende Reform wird in unserem Land aber emotional hoch aufgeladen diskutiert. Viele Länder um uns herum haben diesen Schritt gemacht. Das sind weitere Warnsignale. Wollen wir die Prosperität sichern, dürfen wir nicht stehen bleiben, sondern müssen das System erneuern.

Die Schweiz braucht dringend einen Weckruf. (Fotolia)

Stehen diesem Handlungsbedarf die Volksrechte entgegen?

Wir sind zu Recht stolz auf unsere direkte Demokratie. Sie stiftet Identität. Jeder Vierjährige kann heute ein iPhone bedienen, doch der Bund legt den Rückwärtsgang in der digitalen Demokratie ein. Bezüglich der Volksrechte müsste die Schweiz endlich einen Fortschritt in Sachen digitaler Demokratie machen. Dazu gehören E-Voting, E-Referendum oder E-Initiative.

Würde eine simple Erhöhung der Unterschriftenzahlen für Initiativen und Referenden helfen?

In einer einfachen Form scheitert diese Forderung. Wir müssen die Volksrechte weiterentwickeln, eben in Richtung der digitalen Welt. In der Verfassung sollten die Unterschriftenzahlen an die Bevölkerungsentwicklung angepasst werden. Zudem könnte die Zahl der nötigen Unterschriften differenziert werden, je nachdem, ob sie digital gesammelt und eingereicht werden oder in herkömmlicher Art.

Sehen Sie auch Reformbedarf auf der parlamentarischen Ebene?

Die Arbeitsweise des Parlaments sollte vermehrt einen langfristigen Fokus verfolgen. Die Reform etwa der Altersvorsorge ist zu kurzfristig, opportunistisch ausgerichtet und trägt den langfristigen Bedürfnissen nicht Rechnung. Es ist zudem fragwürdig, am Ende der Session ein unausgegorenes Reformpaket zu verabschieden und einen Tag später bereits von nächsten Revisionen zu sprechen.

Ist die liberale Ordnung generell unter Druck geraten, erleben wir auch international eine Zeitenwende?

Lassen Sie mich zuerst noch ein Wort zur Standortqualität sagen. Das hat auch mit der liberalen Ordnung zu tun. Die Schweizer Unternehmen haben in den vergangenen zehn Jahren rund 1,9 Mio. Stellen im Ausland geschaffen. Das ist ein Wachstum von 32,5% und entspricht, verglichen mit dem Schweizer Arbeitsmarkt, rund 40% der Beschäftigten. Das müsste ein Weckruf für die Politik sein. Aber die Schweiz hat eine gewisse Reformresistenz entwickelt. Wir stellen fest, dass in letzter Zeit zunehmend Nein gesagt wird zu liberalen Erneuerungen. Auch international gibt es immer mehr Verstösse gegen liberale Marktordnungen. Die USA und selbst Grossbritannien greifen mehr zu protektionistischen Massnahmen – allein die USA in den vergangenen zwölf Wochen elf Mal. Von einer Zeitenwende zu sprechen, ist vielleicht etwas verfrüht. Aber in den USA ist die Rückkehr zu einer merkantilistischen Politik feststellbar. Auch bei uns wird die freiheitliche Ordnung nicht mehr immer unterstützt. Das liberale Gedankengut als solches ist nicht mehr selbstverständlich. Es sind klare Tendenzen Richtung Bequemlichkeitsgesellschaft erkennbar, wie vom US-Ökonomen Tyler Cowen beschrieben.

Nach den letzten Parlamentswahlen war die Rede von einem Wahlsieg der Bürgerlichen. Da müsste doch das liberale Verständnis ausgeprägter sein?

Aus liberaler Optik hat der sogenannte bürgerliche Schulterschluss nicht stattgefunden. Statt dass konsequent liberale Lösungen gesucht werden, türmt sich eine eigentliche Reformhalde auf, wir leiden an einer Reformblockade.

Ist das auch ein Spiegel der Meinung im Volk?

Die Public-Governance-Forschung zeigt, dass die Reformbereitschaft in der Regel in schwierigen Zeiten am grössten ist. Das haben wir in der Schweiz zuletzt in den Neunzigerjahren gesehen, nach dem Nein zum EWR. Dort hat die Erneuerung angefangen. Wir verdrängen heute viele Probleme. So hat es im süddeutschen Raum zum Beispiel Regionen mit einer niedrigeren Erwerbslosigkeit als in der Schweiz. Diese Warnsignale verhallen ungehört.

Was ist zu tun, wie bringt man dieses Bewusstsein in das Denken der Leute und der Politiker?

Es nicht zielführend, wenn wir den liberalen Diskurs hinter geschlossenen Türen führen. Der Wert einer liberalen Ordnung muss breit diskutiert werden, der Adressat muss das Volk sein. Dazu braucht es auch das Unternehmertum, authentische und glaubwürdige Unternehmer. Wir müssen mit diesen Anliegen hinausgehen, auf die Strasse, auch ins «Rössli» oder in den «Bären».

Müsste man nicht auch in den Aussagen plakativer werden? Die Linke hat die Abstimmung zur Unternehmenssteuerreform III mit dem – falschen – Schlagwort «Milliardenbschiss» gewonnen. Auf liberaler und bürgerlicher Seite will man erklären und differenziert argumentieren.

Das Wirtschaftsgeschehen lässt sich meist nicht in einem plakativen Satz erklären. Unser Ziel ist, mit Ideen, Strategien und Diskussionsbeiträgen aufzuzeigen, wie der Wohlstand gesichert und gesteigert werden kann. Diese Prosperitätsstrategien sollen nicht nur in Politik, Wirtschaft und Medien Thema sein, sondern durchaus auch am Stammtisch. Die an mich herangetragene Erwartungshaltung von Politik und Wirtschaft ist, dass unsere umfassenden Analysen auch als intellektuelles Konzentrat daherkommen sollen, mit konstruktiven Ansätzen, kurz und prägnant.

Wie sehen Sie die Rolle der Wirtschaftsverbände? Man hat den Eindruck, dass sie in jüngster Vergangenheit in ihren Kampagnen nicht eben glücklich agiert haben.

Wenn man die Verbände kritisiert, lenkt das auch davon ab, dass die liberale, freiheitliche Gesellschaftsordnung grundsätzlich unter Druck ist. Das liberale Bewusstsein der Stimmbürger kann nicht allein mit Plakatkampagnen drei Monate vor der Abstimmung gefördert werden. Wir müssen diesen liberalen Teppich permanent ausrollen und pflegen.

Sie fürchten, dass wir in der Altersvorsorge auf einen Generationenkonflikt zusteuern. Könnten Sie das etwas detaillieren?

Die Erwerbstätigen werden zur Kasse gebeten, und man beschliesst einen opportunistischen Zuschlag auf die AHV-Renten. Damit wird der demografische Wandel in keiner Art und Weise berücksichtigt, man schafft lediglich zwei Klassen von Rentnern. Wir müssen das Rentenalter anheben, wie dies international auch geschieht. Für die kleinen Einkommen ohne berufliche Vorsorge stehen die Ergänzungsleistungen zur Verfügung. Die vom Parlament beschlossenen 70 Fr. werden da angerechnet, die Lage der niedrigen Einkommen bessert sich damit nicht. Darum ist diese Lösung letztlich unsozial. Gefordert sind auch die Unternehmen. Gemäss Umfragen ist mehr als die Hälfte der Arbeitnehmer bereit, über das heutige Pensionsalter hinaus zu arbeiten. Das ist ein enormes Expertenwissen, das quasi brachliegt. Wenn wir die Leute mit 65 zwangspensionieren, verschärfen wir den Fachkräftemangel. Notwendig sind flexiblere Arbeitsmodelle.

Auf Unternehmensebene hat sich doch einiges geändert. Viele beschäftigen heute ältere Arbeitnehmer weiter.

Das Potenzial der «Silver Economy» wird auf Unternehmerseite zunehmend genutzt. Angesichts der Reformblockade in der Politik ist es umso wichtiger, dass da ein gewisser Gegendruck entsteht.

Warum ist die Schweiz bezüglich des Rentenalters so im Rückstand?

Das Problemlösungsbewusstsein über die ungelöste Finanzierung infolge der demografischen Entwicklung ist zu wenig breit verankert. Die Senkung des Umwandlungssatzes in der zweiten Säule ist im ersten Anlauf ja sehr deutlich gescheitert. Die demografische Herausforderung ist aber mit dem Beschluss der Räte zur Altersvorsorge 2020 keineswegs gelöst worden. Die öffentliche Diskussion sollte sich mehr auf die Finanzierungsprobleme und die Gefahr des offenen Generationenkonflikts konzentrieren, dann wird es die Vorlage vor dem Volk schwer haben.

Wenn Bundesrat Alain Berset und viele Politiker stets behaupten, die Schweiz sei nicht reif für ein höheres Rentenalter, wird das auch so geglaubt.

Das ist weder eine couragierte noch weitsichtige Politik. Zumal sich die Lage weiter verschärft. Die Sozialabgaben absorbieren einen immer grösseren Teil der Ausgaben der öffentlichen Hand, auch auf der Ebene der Kantone, zulasten etwa von Bildung und Infrastruktur.

Mit der Energiestrategie gelangt demnächst ein anderes wichtiges Thema zur Volksabstimmung. Wie kommt es, dass sich die Schweiz da in Richtung Planwirtschaft bewegt?

An der Stelle der Marktwirtschaft entsteht eine neue Staatswirtschaft. Stattdessen müsste der Markt endlich vollständig geöffnet und liberalisiert werden. Aber das wurde auf die lange Bank geschoben. Die kleinen Kunden sind gefangen und können den Stromlieferanten nicht wählen. Mit den CO2-Zertifikaten könnte ein System gebaut werden, das die Umweltqualität deutlich mehr steigert. Zudem ist das Stromabkommen mit der EU überfällig. Versorgungssicherheit erreicht man am ehesten durch eine wirtschaftliche Vernetzung und nicht durch Autarkie-Planspiele. Es ist eine gewaltige Subventionsmaschine zulasten der Konsumenten am Anlaufen. Es besteht die akute Gefahr, dass die Energiewirtschaft zur neuen Landwirtschaft wird, die bekanntlich per saldo keine Wertschöpfung generiert.

Die Energiestrategie ist zu einer Glaubenssache geworden. Sie wird als grün, umweltfreundlich und damit moralisch überlegen verkauft.

Ich stimme Ihnen zu. Die letztlich für die allgemeine Wohlstandsentwicklung entscheidende Grundsatzdebatte über mehr Markt oder Staat wird umgangen.

Bleibt die Schweiz angesichts all dieser Probleme auch in Zukunft an der Spitze der eingangs erwähnten Rankings, oder werden wir zurückfallen?

Es braucht dringend einen Weckruf. Die Schweiz ist schon sehr lange an der Spitze und hat wohl einen gewissen Sättigungsgrad erreicht. Wir müssen die Bereitschaft zu Modernisierungen dringend erhöhen. Entgegen den Erkenntnissen der Governance-Forschung hoffe ich, dass es dazu nicht erst eine nächste Krise braucht.

Dieses Interview ist in einer gekürzten Fassung in der Print-Ausgabe der «Finanz und Wirtschaft» erschienen. Die hier mit freundlicher Genehmigung der Redaktion wiedergegebene Fassung entspricht dem online erschienenen Text.